OTC in der Apotheke

Kundenbindung durch Kompetenz


Prof. Dr. Uwe May

Rezeptfreie Arzneimittel machen in einer Durchschnittsapotheke weniger als ein Fünftel des Umsatzes aus. Sie deshalb in der Offizin stiefmütterlich zu behandeln, wäre nicht nur unter kurzfristigen Rentabilitätsgesichtspunkten, sondern auch langfristig – strategisch – falsch.

Betriebswirtschaftliche Gründe für OTC

Isoliert betrachtet, liefern diese Kennzahlen gute Gründe dafür, den OTC-Bereich in der Apotheke zu vernachlässigen. Diese isolierte Betrachtungsweise ist aber betriebswirtschaftlich unzulässig. Das beginnt bereits damit, dass eine Vielzahl von Selbstmedikations- oder durch das Grüne Rezept initiierten Käufen in Verbindung mit der Einlösung eines Rezepts für ein verschreibungspflichtiges Präparat erfolgt. Fühlt sich der Kunde in der Selbst­medikation in der betreffenden Apotheke nicht gut aufgehoben, so ist nicht nur der OTC-Umsatz gefährdet, sondern auch der damit assoziierte Rx-Umsatz.

Vielleicht noch wichtiger als diese Verbindung zwischen OTC- und Rx-Käufen ist, dass mit dem nur 15%igen Umsatzanteil rezeptfreier Präparate in der Apotheke – bedingt durch das oben genannte Preisverhältnis – ein Ab­satzanteil von annähernd 50% einhergeht. Den OTC-Markt aufgrund seines vergleichsweise geringen Umsatzanteils als zweitrangig zu betrachten, wäre demnach gleichbedeutend damit, zahlreiche Kunden als nachrangig zu betrachten. Hier schließt sich wieder der Kreis: Wer heute als OTC-Kunde gebunden wird, betritt die Apotheke vielleicht schon morgen mit einem Rezept.

Selbstmedikation als Domäne der Apotheke

Die Gewinnung und Bindung von Kunden zählt zu den zentralen erfolgsbestimmenden Faktoren in der Apothekenbetriebsführung. Hier bietet die Gruppe der OTC-Käufer nicht nur quantitativ, d.h. aufgrund ihrer Gruppenstärke, sondern auch qualitativ ideale Voraussetzungen. Zahlreiche Kun­denbefragun­gen und Marktforschungsstudien der zurückliegen­den Jahre zeigen, dass der Apotheker gerade bei leichten Gesundheitsstörungen, d.h. in der Domäne der Selbstmedikation, als kompetenter und vertrauenswürdiger Ansprechpartner von den Kunden anerkannt wird. Mehr noch: In diesem Feld wird er häufig dem Arzt als Ansprechpartner vorgezogen.

Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass dieser Weg auf lange Sicht möglicherweise sogar ausbaufähig ist: In Großbritannien wird in Modellversuchen getestet, den Apothekern in bestimmten Bereichen die Ausstellung von Rezepten zu ermöglichen, um so nicht notwendige Arztkonsultationen zu vermeiden. Schon heute gilt, dass die Profilierungsmöglichkeiten des Apothekers bei der Beratung in der Selbstmedikation häufig ausgeprägter sind als bei der von bösen Zungen als „Schubladenziehen“ bezeichneten Belieferung von Rezepten.

Nicht übersehen werden sollte auch, dass die klassischen Apotheken im OTC-Geschäft einem wesentlich stärkeren Wettbewerb der Vertriebswege ausgesetzt sind als im Rx-Bereich. So stehen in Drogerie- und Verbrauchermärkten, Reformhäusern etc. auch frei verkäufliche Prä­parate für die Selbstmedikation zur Verfügung, wobei die Grenzziehung zwischen Arzneimitteln, die in der Selbstmedi­kation in Betracht kommen, und anderen „Gesundheitsmitteln“ aus dem Nicht-Arzneimittelsegment für den Kunden oft nicht nachvollziehbar ist. Die Apotheken können und sollten es sich nicht leisten, die Kunden- und Produktsegmente am Rande des Arzneimittelbereichs an andere Anbieter zu verlieren.

Kundensicht zu OTC

Damit das pharmazeutische Personal in der Apotheke den Erwartungen und Bedürfnissen der Kunden in der Selbstmedikation gerecht werden kann, ist es wichtig, deren Einstellungen und Sichtweisen zu kennen. Hierzu liefern aktuelle Ergebnisse der Marktforschung sehr hilfreiche Einblicke. Bei Auftreten ei­ner leichten Gesundheitsstörung steht aus Kundensicht grundsätzlich ein Hausarztbesuch oder eine Selbstbehandlung zur Disposition. Im Falle der Selbstbehandlung stellen der Apothekenbesuch mit dem Ziel eines OTC-Kaufs und die Anwendung von Hausmitteln in etwa gleichrangige Alternativen dar. Zu den wichtigsten Motiven, die aus Kundensicht für eine Selbstbehandlung anstelle eines Arztbesuchs sprechen, zählen die damit verbundene Zeitersparnis und Bequemlichkeit sowie die Einsparung der Praxisgebühr. Grundvoraussetzung für die Selbstbehandlung ist überdies, dass der Arztbesuch im Hinblick auf Diagnosestellung und Therapie als entbehrlich betrachtet wird.

An dieser Stelle kommt unmittelbar die pharmazeutische Beratung in der Apotheke zum Tragen. Wenn die Unsicherheit bezüglich der richtigen Behandlung bzw. die Empfehlung eines entsprechenden Arzneimittels zu den vorrangigsten Überlegungen für oder gegen eine Selbstmedikation gehören, ist es naheliegend, dass sich der Apotheker als Arzneimittelfachmann hier aktiv und maßgeblich einbringen kann. Gefragt ist in erster Linie die apothekerliche Empfehlung eines wirksamen und für den speziellen Fall therapeutisch adäquaten Arzneimittels, begleitet durch entsprechende Anwendungshinweise.

Das Thema Arzneimittelsicherheit ist ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Dennoch gilt, wie Patientenbefragungen zeigen, dass Ängste vor unerwünschten Arzneimittelwirkungen aus Sicht der Kunden in der Selbstmedi­kation ein gegenüber dem Wirksamkeitsaspekt nachgeordnetes Kriterium bei der Entscheidungsfindung darstellen. Weit abgeschlagen hinter den therapiere­levanten Eigenschaften rangiert für viele Verbraucher erst der Preis als Auswahlkriterium.

Unabhängigkeit von gesundheitspolitischer Willkür

Neben den Potenzialen der Kundenbindung und der heilberuf­lichen Profilierung bietet der OTC-Markt den Apotheken auch Chancen vor dem Hintergrund gesundheitspolitischer Entwicklungen. Die Apotheken standen in den zurückliegenden Jahren nicht selten im Fokus gesundheitspolitischer Aktivitäten, die in aller Regel nichts Gutes brachten. Grundsätzlich bietet das OTC-Segment die Chance, zumindest in einem Teilgeschäft freier, ja fast unabhängig von den unkalkulierbaren Risiken gesundheitspolitischer Interventionen zu werden. Was schon heute ein wichtiges zweites Standbein sein kann, weist für die Zukunft weitere Wachstums­potenziale auf: Gesundheitsökonomen sind sich einig, dass sich aus der sich zunehmend öff­nenden Schere zwischen Bedarf und vorhandenen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung ein Trend zur Privatisierung von Teilen der Gesundheitsversorgung ergeben wird. Dies betrifft nicht zuletzt den Arzneimittelbereich und stärkt damit das OTC-Segment.

Fazit:
Das OTC-Segment ist schon heute und noch mehr in Zukunft für die Einzelapotheke wie für den Berufsstand ein betriebswirtschaftlich und strategisch unersetzliches Standbein.

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2012; 37(13):9-9