Prof. Dr. Reinhard Herzog
Erster Schritt: Freie Zeit schaffen
Eine Grundvoraussetzung, um weiter und freier über den Tellerrand hinausblicken zu können, ist genügend Zeit. Und zwar nicht nur eine Stunde zwischendurch, sondern längere Freiräume am Stück. Wer seinem Tagespensum nur noch mühsam „hinterherhechelt“, hat kaum eine Chance, sich weitergehende Gedanken zu machen und sich geistig aus der Routine zu lösen. Man könnte es auch provokanter formulieren: Arbeiten Sie weniger, denken Sie dafür mehr nach und leisten Sie anschließend trotzdem (oder gerade deshalb...) mehr! Arbeit und Leistung sind bekanntlich nicht dasselbe.
Viele werden jetzt sagen: Das geht aber nicht, ich bin hier und dort unverzichtbar und wenn ich nicht ständig überall hinterher bin, dann ... ja, was bedeutet „dann“ eigentlich? Was bedeutet es zudem, falls Sie tatsächlich einmal nicht mehr können, längere Zeit wegen gesundheitlicher Probleme ausfallen?
Wer etwas möchte, findet Wege, wer etwas nicht will, sucht (und findet gleichfalls) Gründe. Wenn Sie nicht bereit sind, Freiräume zu schaffen, werden Sie Ihre Lage aktiv kaum verbessern können. Es mag Ihnen vielleicht das Glück hold sein, sodass äußere Umstände – die Sie aber nicht beeinflussen! – Ihnen mehr in die Kasse spülen. Aktives Gestalten ist jedoch etwas ganz anderes.
Also: Falls Sie unter dem Hamsterradsyndrom leiden – suchen Sie zumindest eine temporäre Ausstiegsmöglichkeit. Am besten noch heute.
Nehmen Sie sich dazu Ihre Personalplanung vor. Sie finden keine Vertretung? Dann stellt sich gleich die Frage: Haben Sie intensiv genug gesucht, es einmal mit unkonventionellen Methoden und Anreizen probiert? Sie meinen, Sie sind unersetzlich? Würden Sie morgen erkranken, liefe ein gut aufgestellter Betrieb (vielleicht ein bisschen weniger) erfolgreich weiter; falls nicht, sollten Sie ernsthaft nachdenken, ob es klug ist, die eigene wirtschaftliche Existenz und zum Teil die der Mitarbeiter an das niemals vollständig beeinflussbare Schicksal eines Einzelnen zu knüpfen.
Schauen Sie also, dass Sie Freiräume bekommen und Ihren Betrieb so aufstellen, dass er auch ohne Sie zumindest so funktioniert, dass er sich trägt und kein Absturz droht. Sie werden sehen, dass sich diese Strategie unter dem Strich sogar lohnt – weil Sie viel freier und kreativer neue, ertragreichere Wege finden können und zudem eine höhere Lebenszufriedenheit erlangen.
Zweiter Schritt: Perspektiven entwickeln
Der zweite Schritt ist eher grundsätzlicher Natur, gleichwohl wichtig: Was sind Ihre Antriebskräfte, Ihre Motivationen? Welche Ziele verfolgen Sie? Was ist Ihnen am wichtigsten, was folgt danach? Wie sieht Ihre Werteskala aus? Welchen Stellenwert nehmen Geld, Familie, persönliche Freiheit, Macht oder Selbstverwirklichung ein? Ohne ein solches Wertegerüst und eine Zielvorstellung können Sie zwar den „Adlerblick“ entwickeln, aber wohin soll dieser sich richten?
Dritter Schritt: Überblick ver‑ schaffen und Prioritäten setzen
Der Adler sieht zum einen sehr scharf und erkennt selbst kleinste Details auf große Distanzen. Er jagt jedoch nicht jeder Zwergmaus hinterher, weil das schlicht unökonomisch und unnötig kräftezehrend wäre.
Genau diese Fähigkeiten sind im Betrieb ebenfalls gefragt: So muss man zwar durchaus einen Blick auf (zunächst scheinbar) nebensächliche Details haben, können diese sich doch möglicherweise zu massiven Problemen auswachsen. Gleichzeitig gilt es aber, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, nur lohnende „Targets“ anzupeilen, anderes dagegen auf der Beobachtungsliste zu halten sowie Einflussgrößen und Risiken zu erkennen. An diesen Punkten scheitern viele und landen deshalb im uneffektiven Hamsterrad bzw. der auslaugenden, dennoch langweilenden Tretmühle.
Praktisch umgesetzt bedeutet das zunächst, dass Sie die Basis Ihres Geschäftserfolgs verstehen sollten. Wer orientiert und im Bilde ist, kennt seine Umsätze, Erträge und Spannen zumindest übersichtsweise in allen relevanten Sortimentssparten, er weiß um seine Kostenstruktur, er kennt Stärken und Schwachpunkte des Betriebs vorurteilsfrei ohne rosarote oder tiefschwarze Brille.
Er weiß zudem, wem er seine Umsätze zu verdanken hat, kennt seine Hauptverordner und Top-Kunden (nicht selten vereinigen bereits 10 Kunden mehr als 10% des Umsatzes und immer noch fünfstellige Roherträge auf sich!), ihre tatsächliche Bedeutung sowie ihre Vorlieben und Abneigungen, und kann die damit verbundenen Risiken und Chancen abschätzen. Der Blick aus der Haustür zeigt Ihnen, welche Position Sie im Wettbewerb mit anderen Apotheken einnehmen.
Sie können mit Faustformeln umgehen und schnell überschlagen, was Ihnen z.B. 50.000€ Rezeptumsatz eines Heimes an Rohertrag etwa in die Kasse spülen würden, was Sie von einem neuen Kosmetiksortiment realistisch erwarten dürfen oder was eine Preissenkung um 10% bedeutet. Sie müssen nicht erst Ihren Steuerberater fragen, um eine Vorstellung zu bekommen, was 25 Cent mehr Honorar je Rx-Präparat jetzt bringen oder 30 Cent weniger Kassenrabatt. Sie wissen ungefähr, was Sie eine Arbeitsstunde Ihrer PTA oder Approbierten tatsächlich kostet.
Sie beginnen, lohnende Ziele rascher zu erfassen und offenkundig Unrentables links liegen zu lassen. Sie vertrödeln, wo immer es geht, nicht mehr Ihre Zeit mit Dingen, die nichts bringen. Zeit bekommt in diesem Kontext für Sie eine neue Bedeutung.
Manch einer mag jetzt aufstöhnen: Dazu bin ich doch nicht Pharmazeut geworden! Muss ich mich mit solchem „Mist“ auch noch belasten, reichen Rabattverträge, zeternde Kunden und Dokumentationswahnsinn nicht bereits? Gewiss, nur: Wenn Sie sich den Tatsachen nicht stellen, werden Sie eben nicht den Überblick bekommen, Sie werden weiterhin für jeden größeren Schritt Berater fragen müssen (oder blind losmarschieren), Sie werden in der Hammelherde mitlaufen und genau das nicht erreichen, wovon die meisten doch träumen: mehr Souveränität und am Ende mehr Erfolg und mehr Freiheit!
Überblick auch beim Umgang mit den Mitmenschen
Auch beim Umgang mit den Mitmenschen zählen Übersicht und Unterscheidung des Wichtigen vom Nebensächlichen. So kann man bei seinen Mitarbeitern durchaus einmal „fünf gerade sein lassen“ und großzügig sein, aber dennoch bei relevanten Punkten deutlich und zielgerichtet zufassen und klare Linie zeigen.Souveränität und Übersicht sollten weiterhin den Umgang mit Kunden, Ärzten und sonstigen Partnern prägen: Wer den Überblick hat und erkennt, worum es eigentlich jeder Partei geht, streitet sich nicht mit seinen Kunden um eine vom Wert her oft lächerliche Reklamation oder einen leicht erfüllbaren Sonderwunsch. Er weiß nämlich, dass die Anzahl der Beschwerden typischerweise gering ist, eine in den Augen des Kunden unbefriedigende Kulanz jedoch schnell große Kreise ziehen kann.
Einen Streit mit dem Kunden gewinnt man fast nie und Ähnliches gilt für alle anderen Beteiligten, von denen die Apotheke profitiert oder gar abhängig ist. Es gibt elegantere, souveräne Wege, ans Ziel zu kommen, auch ohne sich allzu sehr verbiegen zu müssen.
Nicht zuletzt steht der rein private Bereich unter dem „Adlerblick“: Mal von oben betrachtet – wie steht es eigentlich um Ihr privates Gefüge, Abhängigkeiten, Risiken? Aus der Erfahrung wissen wir nur zu gut, wie sehr gerade diese persönlichen Irrungen, eine Scheidung, Rosenkriege oder sonstige familiäre Verstrickungen das gesamte sorgsam gepflegte Berufsleben durcheinanderwirbeln und komplette Existenzen vernichten können.
Wer es schafft, hier den Blick etwas weiter schweifen zu lassen, vielleicht auch einmal genauer auf die zahlreichen Signale der vertrauten Umgebung hört und sich die Risikoallokationen, „critical points“ und „Sollbruchstellen“ im Beziehungsgefüge klar macht, der sollte nicht mehr so leicht unvermittelter Dinge in persönliche Katastrophen hineinstolpern. Ein gewisses Restrisiko für Überraschungen bleibt freilich gerade in diesen sensiblen Bereichen nie aus.
Vierter Schritt: Flexibel bleiben, Denkweisen überprüfen und – trainieren!
Erliegen Sie nicht der Verführung, sich auf ein durchaus erfolgreiches, aber doch starres System der Betriebsführung und -kontrolle sowie allgemeinen Lebensführung zu verlassen. Gerade Erfolg macht betriebsblind, bisweilen arrogant oder auch leichtsinnig. Bewahren Sie sich daher stets die Flexibilität, entwickeln Sie den „Bewegungsblick“, sprich die Sensibilität für Veränderungen. Geistige und körperliche Flexibilität ergänzen und bedingen sich – ziehen Sie daraus die richtigen Schlüsse für Ihre private Lebensführung und erhalten Sie sich Ihre geistige wie körperliche „Spannkraft“.
Sorgen Sie neben dem durchaus wichtigen körperlichen zusätzlich für ein geistiges Fitnessprogramm: Überschlagen Sie Dinge im Kopf. Machen Sie sich einen Spaß daraus, alles Mögliche in Ihrer Umwelt abzuschätzen und quantitativ zu überschlagen. Hinterfragen Sie mehr: Wie kann dieses und jenes funktionieren?
Vielleicht erwachen Ihre kindliche, in der Erwachsenenroutine erlahmte Neugier und Ihr Bastlerinstinkt, und Sie nehmen einfach einmal ein ausgedientes Gerät auseinander und staunen, was es so alles gibt und wie es arbeitet. Worauf basieren Geschäftsmodelle in anderen Branchen? Lernen Sie eine neue Sprache oder schulen Sie Ihr Denkvermögen am Rechner, indem Sie dort Rechenmodelle aufbauen, gestalterisch mithilfe der zahlreich angebotenen Designprogramme tätig werden oder gar eine Programmiersprache (Anwendung z.B. bei Ihrer Website) lernen. Oder Sie greifen selbst zum Pinsel, zum Handwerkszeug, zum Musikinstrument...
Versuchen Sie, in Modellen und Zusammenhängen zu denken, und erheben Sie sich über die Froschperspektive hinaus. Frösche sitzen regungslos und warten auf vorbeifliegende Mücken, die sich zudem noch in einem engen Radius um den Frosch verirren müssen. Adler überschauen dagegen ganze Landstriche.
Kurzum: Entwickeln Sie Ihre natürliche Neugier weiter und halten Sie Ihr Interessenspektrum möglichst breit. Gerade lange Jahre an immer demselben Ort und an derselben Wirkungsstätte hinterlassen oft Spuren:
- Betriebsblindheit,
- Verharren in eingefahrenen, wenn auch bewährten Strukturen,
- Kritik- und Beratungsresistenz,
- eine schwache Rückkopplung und Korrektur durch Andersdenkende infolge geringer „Reibung“ und Auseinandersetzung,
- teilweise sogar ausgeprägte Isolationstendenzen.
Man lebt in seiner eigenen Welt. Veränderungen werden zunehmend als Bedrohung empfunden, was sich gerade in unserem Berufsstand immer wieder sehr deutlich manifestiert. Nicht umsonst ist deshalb die „Jobrotation“, die Bewährung in verschiedenen Positionen an unterschiedlichen Orten, ein wichtiges Instrument der Karriereförderung in größeren Unternehmen.
Erfolg und lang dauernder Wohlstand können dabei vollkommen kontraproduktiv und lähmend wirken. Wohlstand ist nicht nur in der Gesamtgesellschaft (wie allerorten zu beobachten) das gefährlichste Gift: Süß, doch mit unmerklicher, langfristig verheerender Wirkung lähmt es die Aktivität, lässt Risikoscheu und Sicherheitsgedanken ins Groteske wachsen, verstellt den Blick für das Wesentliche und führt schließlich in den Niedergang.
Veränderungen spüren
Am Ende dieses Programms, so Sie es konsequent angehen, werden Sie sich mutmaßlich deutlich verändert haben. Sie werden eine Menge Eigenverantwortung hinzugewonnen haben. Sie hinterfragen Dinge und versuchen, sie zu verstehen. Sie lassen sich nicht mehr alles erzählen. Für Ihre Entscheidungen tragen Sie die Verantwortung selbst und schieben Misserfolge nicht auf andere.
Von Dingen, die Sie nicht verstehen oder bei denen Risiko und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis stehen, lassen Sie die Finger weg. Sie sind Gestalter und kein Opfer oder Spielball von allen möglichen „Marktteilnehmern“. Und Sie wissen, dass es mit so einer Einstellung notfalls immer eine Alternative zur bisherigen Existenz gibt; auch dazu hat Sie der „Adlerblick“ befähigt.
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2013; 38(02):5-5