Prof. Dr. Reinhard Herzog
Wie oft gehen die Leute zum Arzt?
Der aktuelle Bericht weist stolze 673 Mio. Abrechnungsfälle bundesweit aus, hochgerechnet auf alle Arztpraxen und Bürger. Von Quartal zu Quartal sind jeweils etwa 72% bis 75% der Versicherten bei mindestens einem Arzt in Behandlung („Behandlungsrate“), über das Jahr hinweg 92% (96% der Frauen und 89% der Männer).
Insgesamt verzeichnen wir knapp über 8 Behandlungsfälle pro Jahr und Versicherten (Männer 6,5, Frauen 9,5), was über die letzten Jahre etwa konstant blieb. Dabei bilden alle Behandlungen eines Patienten bei einem Arzt bzw. in einer (Gemeinschafts-)Praxis innerhalb eines Quartals einen Behandlungs- bzw. Abrechnungsfall, dahinter können sich jedoch verschiedene Diagnosen und ggf. auch mehrere Besuche verbergen.
Da heute die quartalsweisen „Versichertenpauschalen“ das Abrechnungsgeschehen dominieren, ist es schwierig geworden, aus den Abrechnungsfällen auf die tatsächlichen Besuche (Arztkontakte) zu schließen. So wurde pro Kopf an 14,3 Tagen (Frauen 16,7, Männer 11,8) eine Leistung abgerechnet, die Zahl der tatsächlichen Besuche dürfte jedoch höher und weiterhin nahe an den früher schon einmal ermittelten 18 liegen, das bedeutet etwa ein Arztbesuch alle drei Wochen. Die regionalen Schwankungen bewegen sich übrigens nur bei wenigen Prozenten.
Naturgemäß gehen Menschen höheren Alters mehr zum Arzt als Jüngere. Mit rund 4 Behandlungsfällen pro Jahr bilden junge Männer um 20 bis 30 das Minimum, gleichaltrige Frauen kommen schon auf gut doppelt so hohe Zahlen. Das Maximum liegt bei etwa 80 bis 85 Lebensjahren mit circa 14 Behandlungsfällen.
Der Wegfall der Praxisgebühr dürfte die Zahl der Arztbesuche tendenziell erhöhen, wobei vor allem Fachärzte profitieren, da keine Überweisung seitens der Hausärzte mehr benötigt wird, um nicht erneut zur Kasse gebeten zu werden. Möglicherweise kommt auch das „Arzthopping“ wieder stärker zum Tragen.
Wo gehen die Patienten hin?
Die Tabelle auf dieser Seite illustriert, welche Fachärzte von welchem Anteil der Versicherten im Jahr 2011 aufgesucht wurden. Dass 65% der Versicherten zum Hausarzt gegangen sind (bzw. ca. ein Viertel zu einem hausärztlich tätigen Internisten), ist leicht nachvollziehbar. Schon überraschender ist, dass jeweils fast 20% einen Hautarzt bzw. Orthopäden und gut 20% einen Radiologen konsultiert haben. Mit 2,3% fällt dagegen der Anteil der Versicherten, die einen (nichtärztlichen) psychologischen Psychotherapeuten besucht haben, bescheiden aus, allerdings landen viele psychisch Kranke bei Psychiatern und Neurologen oder erst einmal bei den Hausärzten.
Zu wie vielen Ärzten gehen die Menschen jedes Jahr? Hier gilt es zwischen direkt behandelnden Ärzten und Ärzten im erweiterten Sinne, z.B. Laborärzten, Pathologen oder rein diagnostisch tätigen Radiologen, zu unterscheiden. Aussagekräftiger ist die engere Sichtweise, die nur die behandelnden Ärzte betrachtet, und da schaut es wie folgt aus: 8% der Versicherten gingen 2011 gar nicht zum Arzt, 16% zu einem, knapp 19% zu zwei, 17% zu drei und gut 13% zu vier Ärzten. Rund ein Viertel war demzufolge bei fünf oder mehr Ärzten in Behandlung, eine recht kleine Zahl von 1,2% „High Level Usern“ gar bei mehr als 10. Dies erklärt u.a. die hohe Zahl an Streurezepten insbesondere in den Städten und die Schwierigkeit, die gesamten Verordnungsvolumina der Kunden in einer einzelnen Apotheke zu bündeln. Insbesondere die wenigen Patienten, die viele Arztpraxen aufsuchen, sind häufig diejenigen, die teils exorbitante Kosten verursachen. So steht 1% der Patienten für 30% der Arzneimittelkosten, mit einem Bruttowert von durchschnittlich rund 17.000€ pro Kopf.
Womit kommen die Leute in die Praxis?
Für die Offizinapotheke ist der Blick auf die gestellten Diagnosen lohnenswert, lassen sich daraus doch mögliche Beratungsschwerpunkte ableiten. Die häufigsten Diagnosen (nach ICD-10 Diagnosekapiteln, d.h. übergeordnete Diagnosegruppen) beziehen sich auf Krankheiten des Muskel-/Skelettsystems (rund 50% der Bevölkerung waren davon betroffen), Atemwegserkrankungen aller Art (48%), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (40%), endokrine und Stoffwechselerkrankungen (40%) sowie psychische Störungen mit beachtlichen 33% der Einwohner.
Fast 29% der Bevölkerung suchten zudem eine Arztpraxis mit Infektionen aller Art auf. Neubildungen (nicht nur, aber oft Krebs) bei fast 22% mögen verwundern, angesichts der Häufigkeit von Krebserkrankungen sind die Zahlen aber plausibel. Dass die Summe der Prozentzahlen weit über 100% liegt, erklärt sich aus Mehrfachdiagnosen bei ein und demselben Patienten.
Hinsichtlich des Beratungs- und Selbstmedikationspotenzials sind insbesondere die in der unten stehenden Tabelle detailliert aufgeführten Diagnosegruppen bemerkenswert. Solche Daten sind insoweit wertvoll, als sie die mögliche Interessentenzahl für entsprechende Beratungs- und Selbstmedikationsangebote erahnen lassen.
Angesichts dieser Diagnosevielfalt und der teils überraschenden Prozentzahlen bleibt ansonsten nur der alte Spruch: „Wer jetzt noch gesund ist, wurde nur noch nicht gründlich genug untersucht.“
Kosten
Der durchschnittliche „Fallwert“ in der GKV (Behandlung eines Patienten bei einem Arzt je Quartal) liegt über alle Arztgruppen hinweg 2011 bei rund 59€. Hausärzte bzw. hausärztliche Internisten finden sich mit 54€ bzw. 57€ knapp unter dem Schnitt, Hautärzte mit etwa 35€ sogar am unteren Ende der Skala. HNO-Ärzte, Gynäkologen, Augenärzte und Urologen bewegen sich in einem Spektrum von etwa 42,50€ bis 50€. Vergleichsweise hoch im Kurs stehen Chirurgen (knapp 72€), Neurologen (92€), Radiologen (107€), fachärztliche Internisten (127€) und an der Spitze die Psychotherapeuten mit 407€.
Die gesamten ärztlich-ambulanten Behandlungskosten ohne Zahnversorgung betragen 2011 etwa 485€ je Patient. Am günstigsten schneiden junge Männer (20 bis unter 25 Jahre) mit 182€, am teuersten alte Männer zwischen 80 und 89 mit fast 1.000€ ab. Im Durchschnitt sind Männer mit 412€ jährlich deutlich günstiger als Frauen (548€). Frauen führen dabei im gebärfähigen Alter bis hin ins frühe Seniorenalter, hochbetagte Frauen sind hingegen wieder etwas günsti‑ger als hochbetagte Männer. Insgesamt gestaltet sich der Anstieg bei den ambulanten Behandlungskosten mit dem Alter deutlich weniger steil als bei den Arzneimittelausgaben oder den Krankenhauskosten.
Schwerpunktthema ADHS
Das diesjährige Schwerpunktthema des BARMER GEK Arztreports ist ADHS. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen beherrschen nicht nur die Medien, sondern finden auch in der Apotheke seit Jahren ihren Niederschlag in zahlreichen Verordnungen. Diese sind, neben den Schmerzpflastern, dafür verantwortlich, dass Betäubungsmittelrezepte ihr früheres Schattendasein verlassen haben. Die nun ermittelten Daten geben Anlass zum Nachdenken.
Hochgerechnet auf die bundesdeutsche Bevölkerung sind etwa 757.000 Personen betroffen, gut 80% entfallen auf die unter 20-Jährigen. Bei dieser Gruppe der Kinder bzw. jungen Erwachsenen beträgt der relative Anteil der Erkrankten etwa 4,2%. Vom 9. bis 15. Lebensjahr sind stets mehr als 10% (Maximum knapp 12% bei Zehnjährigen) der Jungen und lediglich gut 3% (Maximum etwa 4,4%) der Mädchen mit der Diagnose ADHS konfrontiert. Über alle Altersklassen hinweg sind zwei Drittel der Erkrankten männlich. Der Anteil der Patienten an der Gesamtbevölkerung ist dabei in den fünf Jahren von 2006 bis 2011 um stolze 49% gestiegen, speziell bei den Jugendlichen (15 bis 19 Jahre) hat er sich glatt verdoppelt, bei den 20- bis 24-Jährigen gar verdreifacht.
Das spiegelt sich in den Verordnungen. 336.000 Patienten erhalten 1.931.000 Verordnungen, verteilt auf 62,1 Mio. Tagesdosen (DDD). 87% der Packungen entfallen dabei auf männliche Betroffene. Jede Apotheke bedient damit statistisch etwa 90 Verordnungen pro Jahr. Methylphenidat dominiert dabei nach wie vor klar (rund 90%). In den letzten fünf Jahren hat somit die Zahl der Tagesdosen pro Einwohner um 43% zugenommen, was mit der ebenfalls stark gestiegenen Zahl an Diagnosen gut übereinstimmt. Rheinland-Pfalz und Bayern erweisen sich mit etwa 25% bis 30% über dem Bundesschnitt liegenden Verordnungszahlen als ADHS-Hochburgen, wobei es die Region Unterfranken als Rekordhalter bereits in die Tagespresse geschafft hat.
ADHS-Patienten, insbesondere die Kinder und Jugendlichen, weisen auch sonst tendenziell etwas höhere Diagnoseraten bei vielen anderen Krankheiten auf, sind also ein wenig kränklicher als ihre Altersgenossen. Womöglich wurden sie aber einfach auch nur aufgrund der Haupterkrankung detaillierter untersucht. Unter ökonomischen Aspekten sind sie damit in jedem Fall eine recht teure, inzwischen überraschend häufige und insoweit „rentable“ Zielgruppe.
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Internet-Info
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2013; 38(08):4-4