Prof. Dr. Reinhard Herzog
Innovationen sind der Treiber des Fortschritts, generieren oft aber nur noch vermeintliche Vorteile, und die Frage stellt sich: für wen eigentlich? Ob in der Technik, Medizin, EDV oder schlicht in Form verschiedenster „innovativer“ Dienstleistungskonzepte – laufend werden Sie mit „Neuigkeiten“ konfrontiert, die mit teils hohem Aufwand in den Markt gedrückt werden.
Dabei bewegen wir uns gesamtgesellschaftlich schon lange in der Falle des „abnehmenden Grenznutzens“: Ein immer höherer Aufwand für nur noch marginale Fortschritte, das aber zu hohen Folgekosten und oft verbunden mit einer Steigerung der Komplexität und Abhängigkeit von neuen Anbietern.
Gerade im „Consumer Mass Market“ gelingt es jedoch nur einer Minderzahl an neuen Produkten, dauerhaft Fuß zu fassen, obwohl die Werbe- und Vertriebsausgaben oftmals den größten Kostenblock darstellen. Im Lebensmittelbereich beispielsweise ist es weniger als ein Viertel der Neueinführungen, welche die ersten ein oder zwei Jahre überleben. Der Markt ist schlicht übersättigt, wie bei uns auch, was die tägliche Herausforderung der „Warenwirtschaft“ zeigt.
Deshalb bauen die Lebensmittler gerne bereits ein marketingtechnisches „Ablaufdatum“ ein, indem man das Produkt von vornherein mit „Sommer-Edition“, „nur für begrenzte Zeit“ oder „limited Edition“ betitelt. Damit wird sofort ein Verkaufs- und Erwartungsdruck aufgebaut. Hier kann unsere ja ebenfalls mit einer Flut von Produktneuheiten kämpfende Branche noch etwas lernen...
Deutlich anspruchsvoller wird es, Innovationen im Bereich der teuren Investitionsgüter oder die vielen „neuen“ Dienstleistungskonzepte (die oftmals aufgrund langer Bindungsfristen ebenfalls eine hohe Investition darstellen) einzuordnen. Auch hier stellt sich die Frage: Auf den neuen Zug aufspringen, sich von der Konkurrenz abheben, Vorteile im Betriebsablauf generieren – oder abwarten?
Gleichwohl – Stillstand bedeutet langfristig Rückschritt. Totalverweigerung führt nicht weiter, genauso wenig wie der wehmütige Blick in die „gute alte Zeit“. Wie gehen Sie also mit dem Thema „Innovationen“ um? Betrachten wir die wichtigsten Felder, auf denen sich die Neuigkeiten tummeln.
Technik
Hier spielt sich sicher – neben den Verkaufsprodukten im Apothekenregal – das Wesentliche ab. Die Konsequenzen für die Wirtschaftlichkeit und den Arbeitsablauf können gravierend sein.
Kommissionierautomaten sind inzwischen branchenweit keineswegs mehr eine große Innovation (trotz Weiterentwicklung im Detail), für die einzelne Apotheke hinsichtlich der Auswirkungen auf den Alltag schon. Wir reden hier zwischenzeitlich von weitgehend ausgereiften, gut funktionierenden Systemen.
Das war nicht immer so: Die Pioniere vor 15 bis 20 Jahren haben teilweise viel Lehrgeld bezahlt. Denn die Geräte waren für damalige Verhältnisse viel teurer bei geringerer Leistung und zudem anfangs mit Kinderkrankheiten behaftet. Einige Anbieter der ersten Stunde haben es dann nicht geschafft, am Markt zu bleiben – first Mover, first Loser! Und einige Apotheken gehörten rein kaufmännisch durchaus auch zu den „Losern“. Auf der Habenseite standen die gewonnene Erfahrung und die Tatsache, im Hinblick auf eine Zukunftstechnologie vorne mit marschiert zu sein. Dennoch: Bei Investitionen in solch teure und tiefgreifende Systeme ist es gerade für weniger kapitalstarke Apotheken ratsam, nicht zu den Pionieren zu gehören.
In der Beleuchtungstechnik hat schlussendlich die LED-Technologie in weiten Teilen das Rennen gemacht. Inzwischen sind die Preise für diese Leuchtmittel dramatisch gefallen. Noch vor wenigen Jahren hat eine einzige halbwegs brauchbar leistungsstarke LED-Lampe 50€ und mehr gekostet, die heute für weniger als 10€ zu haben ist. Etliche Lampen haben zudem bei Weitem nicht die versprochene Lebensdauer erreicht. Theoretisch hätten sich allerdings diese seinerzeit teuren Lampen selbst damals schon über den geringeren Stromverbrauch amortisiert.
Dennoch gab es eben noch etliche Mankos, wie die Lichtstärke oder die Defektanfälligkeit je nach Hersteller. Heute ist die Technologie massentauglich und preiswert. Wer vor drei oder vier Jahren investiert hat, war als „First Mover“ nicht zuletzt der Finanzier der Entwicklungskosten dieser Technik und zudem auch Tester.
Organische Leuchtdioden (OLED) sind der nächste Beleuchtungstrend – beinahe papierdünn, lassen sich die Leuchtfolien flexibel einsetzen und selbst um Ecken herumführen. Sie sind zurzeit aber ebenfalls noch sehr kostspielig – abwarten lohnt.
Die Bildschirm-Sichtwahl wird im Zuge der fallenden Flatscreen-Preise erschwinglich; der Flaschenhals ist hier die noch überschaubare Anzahl an Anbietern mit klugen und sinnvollen Ansätzen zur kundenwirksamen Gestaltung der Inhalte. Der Erfolg lebt weniger von der Technik (=lösbare technische Standardaufgabe) als eben vom „Content“: Was wird präsentiert und wer bestimmt das womöglich über den Kopf der Apotheke als bloßem „Dauerzahler“ hinweg?
Auch hier gilt: Die Ersten mögen zwar den Show- und Aha-Effekt auf ihrer Seite haben. Richtig reifen wird das Ganze allerdings erst in der Praxis. Ohne ein paar mutige, vornehmlich starke Apotheken kommt aber ehrlicherweise dieser Reifeprozess nicht in Gang...
Ein Megathema ist die allgemeine Digitalisierung. Diese arbeitet sich von der klassischen EDV und Computertechnik über die mobilen Anwendungen immer mehr zur klassischen Technik vor: Energie- und Haustechnik, das „digitalisierte Haus“, das „Internet der Dinge“ bis in den Hausgerätebereich hinein. Hier gilt es sehr genau hinzuschauen, welchen echten Nutzen (über bloße Spielerei oder vermeintlichen Komfortgewinn hinaus) es beispielsweise hat, seine Heiztemperatur oder das Öffnen der Rollläden via Internet auch von Neuseeland aus steuern zu können.
Die Risiken (was, wenn jemand diese Haustechnik „hackt“) und Abhängigkeiten (Wartung, Updates, Fehlerbehebung, Lebensdauer der Systeme und der umfangreichen Sensorik) sind nicht von der Hand zu weisen. Mag sein, dass das alles in 10 oder 20 Jahren dann erprobter Standard ist. Lohnt hier der frühe Einstieg, wenn man nicht gerade ein Technikfreak ist, der auch die Kinderkrankheiten sportlich nimmt?
Ähnliche Gedanken kann man zum Thema Apotheken-EDV und Software anstellen. Hier sind allerdings die täglichen Arbeitsabläufe adressiert. Daher lohnt der Blick auf wirklich arbeitserleichternde Softwareneuerungen sehr wohl.
Ein Thema für sich ist Internet und „Social Media“. Für die einen noch „Neuland“, für andere bereits ein alter Hut – und die digitale Karawane zieht beständig weiter. Hier hilft nur eins: Wenn Sie mitspielen wollen, gar zum „Trendsetter“ werden möchten, dann arbeiten Sie sich intensiv ein. Da hier elementare unternehmerische Aufgaben angesprochen sind (welche Aussagen transportiere ich wann, wie und wo?), ist es gefährlich, dies kenntnisfrei und vertrauensselig an fremde Dienstleister zu delegieren.
Allgemein gilt für den Bereich Technik: Herrscht ein starker Preisverfall und ist die „Innovation“ zurzeit noch hochkomplex sowie generell problembehaftet, ist ein Abwarten sinnvoll. Vielfach ist zu Beginn auch noch gar nicht klar, welche der verschiedenen Entwicklungslinien und welches technische Konzept das Rennen machen.
Verkaufsprodukte und Präparate
Für die vielen inflationären, oft nur scheinbaren Produktinnovationen empfiehlt sich ein ganz stringentes Vorgehen nach Checkliste:
- Hat das Produkt für den Kunden belegbare Vorteile im Vergleich zu etablierten Präparaten? Kriterien sind hier wirklich neue beziehungsweise bisher schwer therapierbare Indikationen, neue oder zumindest verbesserte Wirkprinzipien, eine signifikant bessere Anwendbarkeit oder wenigstens ein günstigeres Preis-Leistungs-Verhältnis. Die Kundensicht sollte immer obenan stehen – wirklich bessere Produkte haben die höchste Chance, ihren Erfolgsweg zu beschreiten! Indes sind diese wirklichen Fortschritte in unserem übersättigten Markt rar gesät.
- Können idealerweise neue Märkte erschlossen werden – neue Indikationen, neue Erkenntnis- und Auswertemöglichkeiten (Diagnostika, Geräte) oder bisher in der Apotheke kaum vertretene Zielgruppen?
- Welche Vorteile bietet das Produkt Ihnen? Kriterien sind: Stückertrag, Markenbekanntheit und werblicher Vorverkauf, ein außergewöhnlich ansprechendes Design und zündende Werbeslogans, die Impulsverkäufe versprechen.
- Bedient die Neuigkeit einen nachhaltigen, dauerhaften Markt oder ist es eine Welle, die anschwappt und rasch wieder abflaut – eben ein typisches „One-Hit-Wonder“, von dem mutmaßlich in zwei, drei Jahren niemand mehr redet?
- Welche Verdrängungseffekte entfaltet das neue Angebot? In aller Regel verkaufen Sie heute bereits etablierte Produkte, häufig werden nur Regalplätze und Stückerträge getauscht. Allzu schnell macht man da ein schlechtes Geschäft!
Gehen Sie derart strukturiert vor, wird es Ihnen ganz gut gelingen, die Spreu vom Weizen zu trennen – und im Zweifel beim Bewährten zu bleiben.
Dienstleistungen und Konzepte
Gerade an verschiedenen „innovativen“ Dienstleistungskonzepten besteht bekanntlich kein Mangel. Vieles spielt sich im Bereich des Marketings und der Verkaufsunterstützung ab. Ob Rezeptsammel-Konzepte, die Flut von Marketingangeboten, unzählige Kundenbelohnungssysteme (Taler und Co.), neuerdings die Begleitung auf dem Weg ins Internet und in die sozialen Medien, diverse Gimmicks für den Betriebsalltag – die Möglichkeiten, sich das Geld aus der Tasche ziehen zu lassen, wachsen von Tag zu Tag. Oftmals sind das typische „Eintagsfliegen“. Je schwächer das Konzept, umso eher bedient man gerne die gut ausgeprägte „Angsttaste“ der Apotheken: „Wenn Sie es nicht machen, dann eben Ihre Konkurrenz.“ Und die erhält dann womöglich noch „Gebietsschutz“. Das nimmt teilweise schon erpresserische Züge an.
Häufig verfolgen solche Konzepte nur einen Zweck: Irgendjemandem (nicht selten handelt es sich um ehemalige Angestellte, deren Arbeitskraft in den Firmen offenbar nicht mehr benötigt wird...) auf irgendeine Weise eine Existenz zu sichern, ob sinnhaft oder nicht. Viele verschwinden alsbald wieder in der Versenkung und tauchen dann bisweilen an ganz anderer Stelle wieder auf.
Hier gilt es, sehr genau hinzuschauen. Was kann ein solcher Anbieter, was ich nicht selbst auch hinbekomme (oder womit ich einen anderweitig bekannten und bewährten Dienstleister beauftragen könnte)? Sind die Summen, um die es dabei geht, nicht allzu dramatisch hoch, können Sie als experimentierfreudiger Mensch Ihre Lernkurven durchlaufen, ohne gleich die Existenz aufs Spiel zu setzen. Vorsichtige Naturen winken in den meisten Fällen dagegen von vornherein ab.
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Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2015; 40(12):4-4