Prof. Dr. Reinhard Herzog
Manche Börsianer wählen die Aktien nach fundamentalen oder charttechnischen Daten aus, andere entscheiden „aus dem Bauch heraus“, richten sich nach „heißen Tipps“ oder Empfehlungen in den Medien. Jede Taktik hat Vorteile, aber auch oft bedeutende Nachteile. Tatsache ist: Langfristig richtet sich die Kursentwicklung einer Aktie ebenso wie die Tendenz einer Branche oder einer ganzen Börse nach fundamentalen Kennzahlen. Eine sorgfältige Analyse erfordert daher zunächst drei Schritte:
- Mit der Länderanalyse wird die fundamentale Situation eines Marktes geprüft. Dabei spielen die politische und wirtschaftliche Lage eine Rolle, aber auch das Zinsniveau und die bisherige Entwicklung der Aktienkurse.
- Mit der Branchenanalyse wird gezielt nach einer bisher noch zurückgebliebenen Branche, aber auch nach chancenreichen Segmenten gesucht. Als Vergleichsmaßstab dienen u.a. die Branchenindizes, aber auch Reports über die wirtschaftliche Entwicklung in den einzelnen Branchen.
- In der Einzelanalyse werden schließlich diejenigen Werte herausgesucht, die innerhalb einer Branche die größten Chancen erwarten lassen. Hilfreich sind hierbei u.a. Geschäftsberichte und Zeitungsartikel, aber auch Vergleiche von Kennzahlen wie etwa Dividendenrendite oder Kurs/Gewinn-Verhältnis.
Nützlich sind dabei Charts, also grafische Darstellungen der bisherigen Entwicklung der jeweiligen Börse, Branche und der infrage kommenden Einzelwerte. Sie zeigen zum einen das „Woher“ der Kurse, erlauben zum anderen aber auch Rückschlüsse auf die mögliche weitere Entwicklung.
Daneben sollte jeder Anleger seinen gesunden Menschenverstand nutzen und auf seine Umwelt achten. So setzt Börsen-Altmeister Warren Buffet nur auf Unternehmen, die er kennt und deren Produkte er versteht. Damit ging der Technologieboom der Jahre 1999/2000 zwar an dem Guru vorbei, andererseits musste er auch keine oder allenfalls geringe Verluste verbuchen, als die Märkte zur Talfahrt ansetzten. Anleger, die z.B. mit einem Apple-Handy telefonieren und einen Mercedes fahren, können die jeweiligen Unternehmen meist recht gut beurteilen.
Dabei spielt es jedoch eine wichtige Rolle, wie die Mehrzahl der Anleger eingestellt ist. Wenn die Aussichten trübe sind, Aktien als Risikoanlage gelten und die Umsatzzahlen der Börse vor sich hin dümpeln, ist meist der Grundstein für eine neue Hausse gelegt. Prahlen indes Investoren mit Kursgewinnen, berichten die Tagesthemen von kräftigen Kurssteigerungen und spricht man am Arbeitsplatz über Aktien, ist höchste Zeit für den Ausstieg: Die Kurse werden in Kürze fallen.
Klare Zyklen erleichtern die Kaufentscheidung
Zu beachten ist, dass die Börse – ebenso wie die Wirtschaft – meist in recht klaren Zyklen verläuft, deren Länge allerdings variiert. Jeder Hausse folgt eine Baisse und jeder Baisse eine Hausse. Die größten Profite winken denjenigen Investoren, die den Markt frühzeitig nüchtern betrachten, die Zyklen analysieren und auf dieser Basis ihre Entscheidungen treffen. Der Anleger muss erkennen, in welchem Zyklus sich die Börse aktuell befindet. Aus dem Ergebnis lässt sich die weitere Entwicklung prognostizieren. Dabei gilt die Regel, dass die Börse der realen Wirtschaftsentwicklung meist sechs bis zwölf Monate vorausläuft.
Zu unterscheiden sind vorrangig sechs Zyklen, die jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sind:
In Phase I befindet sich die Wirtschaft eines Landes in der Rezession. Die Zukunftsaussichten erscheinen trübe, das konjunkturelle Wachstum ist auf null gesunken oder sogar negativ. Die Notenbanken senken den Zins mit dem Ziel einer Konjunkturankurbelung, sodass die Anleihekurse noch steigen. Gleichzeitig geben jedoch die Aktienkurse vor dem Hintergrund der schlechten Stimmung eher nach.
In Phase II hat die Wirtschaftslage ihren Tiefstpunkt erreicht. Nachdem zuvor alle ängstlichen Investoren unter dem Eindruck der schwachen Konjunktur und sinkenden Kurse ihre Aktien verkauft haben, beginnen die ersten mutigen Anleger mit Käufen. Gleichzeitig werden die Gewinnerwartungen für die Unternehmen leicht nach oben geschraubt. Die Aktienkurse steigen zunächst deutlich an, aber auch mit Renten kann noch verdient werden.
Phase III wiederum ist gekennzeichnet durch eine Festigung der konjunkturellen Lage, die auch den bisher sehr gedrückten Rohstoffpreisen wieder Auftrieb gibt. Ebenso steigen die Notierungen von Aktien und Anleihen – wenn auch gemäßigt – weiter. Gegen Ende der Phase III erreichen die Anleihekurse ihren Höchstpunkt, denn die Zinsen sind immer noch auf niedrigem Niveau.
Nun wächst die Gefahr einer allzu schnellen Konjunkturerholung, verbunden mit einer steigenden Inflationsrate. Um dies zu vermeiden, werden in Phase IV die Zinsen erhöht. Damit geben die Anleihekurse nach, angesichts der blühenden Konjunktur sind aber Aktien und Rohstoffe weiterhin stabil. Nicht selten treten gegen Ende dieser Phase spekulative Überhitzungserscheinungen auf: Die Entwicklung an der Börse ist Tagesgespräch, auch ansonsten eher vorsichtige Investoren wählen die Aktie als Anlageinstrument mit der Folge sprunghaft steigender Notierungen. Allerdings erlebt man hier sehr unterschiedliche Ausprägungen: Manchmal kommt es nur zu einer freundlichen Stimmung oder sogar zu einer Seitwärtsbewegung.
Nun ist es Zeit für Phase V, in der die Konjunktur zu erlahmen beginnt. Entsprechend sind die Aktienkurse in Gefahr, sofern sie nicht – wie derzeit – durch den „Treibstoff Notenbankgeld“ hochgehalten werden. Allerdings kann sich das Blatt schnell wenden, wenn die Notenbanken ihren Kurs anziehen. Im Falle einer vorangegangenen Überhitzung erfolgt nicht selten ein massiver Einbruch an den Wertpapiermärkten.
Schließlich wird Phase VI erreicht, in der die Preise von Anleihen, Aktien wie auch Waren gleichermaßen fallen. Die Konjunktur trübt sich immer weiter ein, die Zukunftsaussichten erscheinen eher trist. Clevere Anleger beginnen jetzt mit dem Anleihenkauf, sind die Zinsen doch wieder attraktiv und die Kurse damit am Boden.
Zwar ist der Beginn einer Haussebewegung optimal zum Einstieg geeignet, aber nicht unbedingt ungefährlich. Denn es kann stets zu Rückschlägen kommen und im ungünstigsten Fall ist der Anleger einem Fehlsignal aufgesessen. Im weiteren Verlauf ist das Risiko eines stärkeren Rückschlags jedoch bereits deutlich gemindert. Ein Einstieg erscheint sicherer, bringt aber möglicherweise nicht mehr solch hohe Gewinnchancen wie zu Beginn der Hausse. Zum Höhepunkt der Hausse sollte der Anleger das machen, was in den anderen beiden Phasen überaus riskant werden kann: gegen den Strom schwimmen. Ein rechtzeitiger Verkauf der Papiere schützt vor einem Zusammenschmelzen der bisher erzielten Gewinne. Selbst wenn es dann noch eine Zeit lang weiter aufwärtsgeht: Entgangenen Gewinnen sollte man nicht nachweinen.
Bei einer Baissebewegung ist die Situation genau umgekehrt. Zu Beginn einer Abwärtsbewegung ist ein Einstieg in Form von Verkaufsinstrumenten wie etwa Optionen zwar äußerst riskant, aber er verspricht den größten Erfolg. Auch im weiteren Verlauf kann mit Verkaufsoptionen immer noch gutes Geld gemacht werden, allerdings bei geringerem Risiko. Kommt jedoch zum Höhepunkt der Baisse erst einmal eine Hiobsbotschaft nach der anderen, ist es höchste Zeit, auch hier auszusteigen und langsam ins „Bullenlager“ überzuwechseln.
Aufkeimende Risiken?
Nun stellt sich die Frage nach unserer aktuellen Position. Hier ist davon auszugehen, dass wir uns in einer gemäßigten Phase V befinden. Die Stimmung ist unsicher, in manchen Branchen sogar schlechter als die Lage. Zumindest vorerst sollten Anleger daher eher etwas zurückhaltend agieren, da die Notenbanken mit ihrer Geldflut die Aktienmärkte derzeit in Besitz genommen haben. Ein Einbruch kann jedoch – darüber sind sich die Experten einig – schneller kommen als von vielen erwartet.
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2015; 40(12):13-13