Prof. Dr. Reinhard Herzog
Im Grunde ist alles ganz einfach: Die Ware, welche in die Apotheke hineinkommt, wird wieder abverkauft bzw. auch mal an Lieferanten retourniert – oder befindet sich eben noch im Warenlager. Der „Warenkreiskauf“ sollte somit stets geschlossen sein – theoretisch jedenfalls.
Praktisch finden sich jedoch Differenzen, bei sehr guter Warenführung um oder unter 1% der Packungsanzahl, teilweise aber auch im deutlichen Prozentbereich. In schlecht gemanagten Apotheken kann dagegen durchaus einer von 20 Artikelbeständen regelhaft nicht stimmen. Hier hat man dann täglich mit etlichen solcher Fehler zu tun.
Weitreichende Konsequenzen
Die Konsequenzen reichen weit über das tägliche Ärgernis z.B. der Nicht-Lieferfähigkeit mit allen Konsequenzen (Kundenunzufriedenheit, zusätzliche Botendienste, eigener Zusatzaufwand für Korrekturen u.a.) hinaus:
- Der Warenlagerwert stimmt offenkundig über ein tolerables Maß hinaus nicht mehr.
- Damit einher geht die Tatsache, dass der Wareneinsatz und Rohertrag nicht mehr exakt beziffert werden können (das holt man erst durch eine physikalische Inventur – „händisches Packungszählen“ – wieder ein).
- Das Finanzamt interessiert sich im Rahmen von Betriebsprüfungen ebenfalls dafür. Zu hohe Bestandsabweichungen im höheren Prozentbereich sind ein Indiz, dass „etwas nicht stimmt“ und wecken stets Verdacht.
Auch wenn bei 75.000, 100.000 oder gar weit mehr umgesetzten Packungen pro Jahr Fehler unvermeidlich sind (die bestandsperfekte, „blitzsaubere“ Apotheke würde aus statistischen Gründen ebenfalls Verdacht erregen!), sollte man das Thema gerade im Hinblick auf Betriebsprüfungen ernst nehmen und somit nicht zu großzügig mit Bestandsabweichungen umgehen – selbst wenn man es wirtschaftlich kaum spürt. Die Beurteilung der Betriebsführung an sich steht auf dem Spiel. Doch wie kann es überhaupt zu solchen Fehlern kommen?
Den Warenfluss betrachten
Hier gilt es, ganz logisch die möglichen Wege der Ware mitsamt der denkbaren Fehlermöglichkeiten zu verfolgen:
- Bestell- und Übermittlungsfehler können bereits der Ausgangspunkt für Bestandsabweichungen sein, wenn hinterher bei der Wareneingangskontrolle nicht aufgepasst wird.
- Beim Wareneingang (Verbuchen) kann traditionell viel schiefgehen. Eine Fehlerquelle ist die Option der Warenwirtschaftssysteme, Bestellungen per Knopfdruck automatisch in den Bestand zu übernehmen (Soll wird gleich Ist gesetzt), ohne nachzuzählen bzw. die Lieferung händisch zu überprüfen. Allerdings spart dies eben beträchtlich Zeit, angesichts der Tatsache, dass Lieferantenfehler recht selten sind. Eine weitere Fehlerquelle ist die (heute weniger bedeutsame) ordnungsgemäße Erfassung der Naturalrabatte.
- Am HV-Tisch kann in der Hektik des Alltags schnell ein Bestands-Chaos angerichtet werden: Im Gefolge der Rabattverträge (z.B. Alternativabgabe), beim Stückeln, bei komplizierten Kundenvorgängen mit einem Mix aus Rezept- und Barartikeln, vor allem wenn der Kunde sich umentscheidet und doch die kleine statt die große Packung möchte und noch Artikel XY lieber dalassen will (und alles schon abgescannt ist), bei Nachlieferungen, bei Stornierungen, Reklamationen und Umtausch, beim Handling von Prämien und Rabatten und vieles mehr. Nicht jeder behält die Nerven und arbeitet hundertprozentig „sauber“. Gefährdet sind insbesondere selten eingesetzte, weniger routinierte Springer und Minijobber, und auch manch Computersystem kommt bei komplizierteren Vorgängen an seine Grenzen.
- Beim Ausbuchen im Backoffice im Zuge der Retourenbearbeitung und Verfallkontrolle schleichen sich schnell Nachlässigkeiten ein. Der Hauptfehler: Vorgänge bleiben auf halbem Weg stecken und werden nicht zu Ende gebracht. So wird z.B. verfallene oder zu retournierende Ware herausgeräumt und separiert, aber nicht zeitnah verbucht. Wird der Bestellstatus nicht geändert, bestellt das System zudem selbst Ladenhüter womöglich gleich wieder nach.
- Eine Falle kann auch die Lagerort- und Übervorratsverwaltung darstellen.
- Diebstahl seitens der Kundschaft oder gar nicht so selten innerhalb der Belegschaft sind eine nie hundertprozentig zu vermeidende Ursache von „Schwund“ und damit Bestandsabweichungen. Im Durchschnitt des Einzelhandels entfallen etwa 1% des Umsatzes auf Diebstahl durch Kunden, branchenabhängig sind aber teils deutlich höhere Werte aktenkundig. Aber auch unbedachte Entnahmen für den Eigenbedarf oder nicht exakt abgewickelte Mitarbeiterverkäufe können schnell Fehlbestände zur Folge haben, dergleichen das Thema Filialen (Artikelverkauf und -tausch untereinander).
- Technische Unzulänglichkeiten: Software-, Datenbankfehler, Scanner-, Übertragungsfehler u.a. Meist sind es aber Bedienfehler bzw. Finessen der Programme, die solche Bedienfehler förmlich provozieren.
Lösungsansätze
Die Herausforderung besteht darin, die richtige Balance zwischen Pragmatismus (Fehlerfreiheit gibt es nicht!) und dennoch Exaktheit und sauber definierten Prozessen zu finden. Eine Bestandsabweichung ist grundsätzlich erst einmal ein ernst zu nehmender Fehler mit einer Ursache, die möglichst nachvollziehbar und aufklärbar sein sollte, unabhängig vom Wert der Packung. Von nichts kommt nichts. Und wenn etwas systematisch falsch läuft, kann es morgen statt der Billigpackung auch einen Hochpreiser treffen. Schauen Sie also, wo Fehlermöglichkeiten lauern, indem Sie wie schon vorgeschlagen den Weg der Packungen durch die Apotheke in Gedanken nachgehen.
Unterscheiden Sie dabei zwischen den einzelnen Sortimenten: Freiwahl (Kundenzugriff!) und Nicht-Freiwahl, Alphabet und Sichtwahl sowie Übervorrat. Eine weitere Abgrenzung ist ggf. der von einem Kommissionierautomaten verwaltete Warenbestand (ganz andere Abgleich- und Auswertemöglichkeiten!) sowie das händisch verwaltete Sortiment mit den meisten Fehlermöglichkeiten. Für die Freiwahl bieten sich beispielsweise „Regalpatenschaften“ an (gewisse Mitarbeiter sind für „ihre“ Regale zuständig) sowie standardisierte Prozesse: regelmäßige Überprüfung auf Bestand („Lückenkontrolle“) und zudem hinsichtlich Preisauszeichnung, Verfall, Sauberkeit und Ordnung. Legen Sie eine Vorgehensweise zum Ein-/Ausbuchen fest.
Wer noch mit dem Generalalphabet arbeitet, sollte auch hier regelmäßige „Lückenkontrollen“ vornehmen und zumindest statistische Bestandsabgleiche vornehmen. Hierzu reichen übrigens i.d.R. 200 bis 300 Artikelpositionen, um zu überschlagen, ob die Bestände einigermaßen auf 1% bis 2% genau stimmen.
Bei gut etablierten Prozessen bleibt im Falle größerer Differenzen fast nur die Variante des Diebstahls übrig, je nach Warensortiment auf die Kunden oder Mitarbeiter zurückzuführen. Das ist ein komplexes Thema für sich. Hier kommen ggf. Warengruppenanalysen und Plausibilitätschecks infrage, denn Diebstahl konzentriert sich oft auf bestimmte, gefragte und eher teure Produktgruppen und -serien wie z.B. gewisse Kosmetika.
Sie können jedoch die Sicherheit bereits steigern, indem Sie Bestandsänderungen nur durch autorisierte Personen (inklusive Passwortschutz in der EDV) und nicht freihändig durch Jedermann zulassen.
Zu guter Letzt ist nochmal das Warenwirtschaftssystem zu nennen. Viele Fehler fußen auf den Eigenheiten der Software oder der dahinterliegenden Systematik der Bestandspflege. Stellen Sie sich den Feinheiten und Eigenheiten und fordern Sie die entsprechenden Definitionen und Hilfen beim Anbieter an. Sie sollten einfach wissen, was Ihr Rechnersystem tut und mit Ihren Mitarbeitern eine Sensibilität für die kritischen Punkte und die wichtigen Fehlermöglichkeiten entwickeln.
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2015; 40(16):8-8