Prof. Dr. Reinhard Herzog
Ein Plus von rund 5 % bei den Packungszahlen und etwa 7 % beim Umsatz mit rezeptfreien Arzneimitteln im Wert von 7,1 Mrd. € netto (Datenbasis nach IMS Health) erfreuen die Branche, zumal es im Vorjahr schon Pluszeichen gab. Der Wermutstropfen: Etwa 1,1 Mrd. € davon schneidet sich der Versandhandel ab, der zwischenzeitlich über 80 % seines Umsatzes mit nicht-rezeptpflichtigen Produkten, zunehmend mit Nicht-Arzneimitteln (u.a. Kosmetik!), bestreitet.
OTX im Vorwärtsgang
Dümpelten die verordneten, nicht-rezeptpflichtigen Arzneimittel (sowohl privat als auch auf Kosten der GKV, also die bekannten OTX) jahrelang nach dem GMG 2004 um die 100 Mio. Packungen herum, ist jetzt mit etwa 134 Mio. Packungen ein Nach-GMG-Rekord erreicht. Allerdings sind im Zuge der häufigeren Verordnungen die Packungswerte ein wenig von ehemals etwas über 10 € auf gut 9 € netto gesunken. Ursächlich für den OTX-Packungszuwachs sind verstärkt ausgestellte „grüne Rezepte“, aber auch die Tatsache, dass immer mehr gesetzliche Krankenkassen OTC-Produkte als Satzungs- oder Ermessensleistung anbieten. Zwar sind diese Leistungen meist vielfältig gedeckelt und an etliche Bedingungen geknüpft, zudem ist der bürokratische Aufwand für die Erstattung der eher geringen Beträge recht hoch. Dennoch dürfte dies alles mit hineinspielen.
Hauptumsatztreiber waren jedoch „gute“ Erkältungsmonate. Schauen wir noch auf die „Pille danach“, sicher der bedeutendste Rx-to-OTC-Switch in 2015. Gut 190.000 Packungen mehr stehen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, als noch in der Verschreibungspflicht, zu Buche. Insgesamt wurden 594.000 Packungen in den etwa neun „rezeptfreien“ Monaten umgesetzt. Nicht die Welt, angesichts der höheren Packungswerte und Stückerträge aber ein nettes Zubrot, welches durch den (nicht zuletzt selbst beförderten) Beratungsaufwand allerdings spürbar geschmälert wird. Ein Jahresabsatz von perspektivisch etwa 1 Mio. Packungen dürfte realistisch sein.
Das letztjährige Rohertragsplus der Apotheken, so es nicht durch gekappte Einkaufsrabatte marginalisiert wurde (das werden erst die endgültigen Wirtschaftszahlen zeigen), dürfte zu rund zwei Dritteln aus diesem Non-Rx-Geschäft stammen. Umsatzmäßig spielen diese 7 Mrd. € Non-Rx-Arzneimittel (plus rund 5 Mrd. € für Nicht-Arzneimittel, v.a. Freiwahl, Hilfsmittel und Medicalprodukte) gegenüber reichlich 36 Mrd. € Rx-Umsatz zwar eine Nebenrolle. Nach Packungen überwiegen sie jedoch jetzt wieder deutlicher (734 Mio. Rx-Packungen versus 806 Mio. Non-Rx-Arzneimittel).
Ist also Sonntagslaune angesagt? Wir wollen nicht zu viel Wasser in den Wein gießen, schließlich steigt gerade durch das OTC-Geschäft die Kundenfrequenz (die klassischen Rezeptzahlen verändern sich ja nur wenig), und zu mehr Geld in der Kasse sagt niemand Nein. Und dennoch sind einige strategische Überlegungen angebracht.
Achillesferse Stückerträge
Das Hauptproblem: OTC- und OTX-Präparate erbringen im Schnitt deutlich unterdurchschnittliche Stückerträge. Liegt der Stückertrag in der typischen Apotheke im Bereich von etwa 6 € über das Gesamtsortiment hinweg, in ärztelastigen Umgebungen gerne bei reichlich 7 €, kommen etliche Center-Apotheken nur auf Werte um 4 € bis 5 €. Die durchschnittliche OTC-Packung erzielt, bei Packungswerten von 7 € bis 8 € je nach Datenquelle, allenfalls 4 € durchschnittlichen Rohertrag, vielfach sind es eher knapp 3,50 €. Verordnete OTX-Präparate auf Kassenrezept im Sinne der Ausnahmeliste schneiden trotz etwa 2 € höherer Packungswerte nur ein wenig besser ab (5 % Kassenrabatt!). Grüne Rezepte oder „echte“ Privatrezepte hingegen liegen typischerweise deutlich besser. Deckungsbeitragsrechnungen zeigen demzufolge: OTC-Präparatebringen nicht, wie vielfach kolportiert, das große Geld ein. Im Gegenteil: Bei einer ehrlichen Aufwands-Nutzen-Betrachtung spielen sie in der typischen Apotheke mit Personalkosten um die 4 € je Bonkunde nur ihre Kosten einigermaßen gut ein. Rentabel wird es erst wieder, wenn hohe Durchsatzzahlen am HV-Tisch erzielt werden und man mit Personalkosten von mehr oder weniger deutlich unter 3 € je Kunde auskommt.
„Spanne“ ist nicht alles
Man darf nicht den Fehler machen, schöne OTC-Handelsspannen mit auf den ersten Blick mageren Rx-Spannen aufzurechnen. Es zählen die absoluten Beträge, und da bringt eine durchschnittliche GKV-Rx-Packung selbst bei mäßigen Einkaufsrabatten eben um die 8,50 € bis 9 € Rohertrag ein. Auf einem in einem Rutsch durchbedienten Rezept sind zudem im Schnitt 1,3 bis 1,4 Rx-Packungen verordnet ... und genau diese Stückertrags-Problematik gilt es, sehr sorgfältig im Auge zu behalten!
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Time is money
Lauflagen- und Center-Apotheken wissen schon lange ein Lied von dem Spagat zu singen, den sie tagtäglich vollbringen müssen. Einerseits sind Freundlichkeit, Kompetenz und eine angenehme, stressarme Atmosphäre das herausragende Merkmal der Apotheken. Kunden möchten sich aussprechen können, Fragen stellen, Aufmerksamkeit erhalten, nicht wie in anderen Läden an der Kasse gedrängt werden. Damit heben wir uns von anderen Einzelhändlern des täglichen Bedarfs ab. Doch kostet dies eben (bisweilen zu viel) Zeit. Und Zeit ist Geld.
Eine PTA-Minute am HV-Tisch schlägt typischerweise in einem Bereich von 30 bis 45 Cent auf, eine Approbierten-Minute bewegt sich gern zwischen 50 und 70 Cent.
Bei Stückerträgen von 3 € bis 5 € für die Vielzahl der OTC-/OTX-Produkte, bei nicht wenigen Massenprodukten noch weniger, kann man sich leicht ausrechnen, wie schnell diese Stückerträge durch die vielgepriesene Beratung „verfrühstückt“ sind. Das gilt verschärft, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der Personalkostenanteil am Rohertrag 40 % bis allenfalls 50 % ausmacht (Durchschnitt etwa 43 %, ohne Filialen). Rechnet man sinnvollerweise nur den hier prozessrelevanten Personalkostenanteil des HV-Personals, landet man bei etwa 30 % mit individuell erheblichen Abweichungen je nach Apothekenorganisation. Der Rest entfällt auf das Backoffice, Labor, die Verwaltung etc. Das reduziert die kaufmännisch verantwortbare Zeit in den Bereich weniger Minuten.
In der Tabelle sind einige Konstellationen modellhaft berechnet. In einer OTC-lastigen Apotheke (Packungsanteil Non-Rx-Arzneimittel 70 %) muss eine PTA mit 22,50 € Stundensatz (Gesamtkosten) immerhin 14,6 Packungen pro Stunde, bei 1,6 Packungen je Kunde entsprechend gut 9 Kunden bedienen, um den für den HV-Bereich zugedachten Rohertragsanteil zu erwirtschaften (das läuft in diesem Beispiel auf 75 € Rohertrag je Stunde heraus). Bei einer absolut rezeptlastigen Apotheke (60 % Rx-Packungen) wären es statistisch nur 11 Packungen (6,9 Kunden), um diesen Ertrag zu erwirtschaften.
Eine deutlich teurere approbierte Kraft (37,50 € je Stunde) muss in der OTC-lastigen Apotheke 24 Packungen resp. gut 15 Kunden abarbeiten, in der „Rezept-Apotheke“ hingegen „nur“ 18,4 Packungen resp. 11,5 Kunden – um ihren erforderlichen, höheren Rohertrag von 125 € einzuspielen. Diese Roherträge liegen weit über den Stundenkosten, doch das müssen sie auch. Schließlich sollen sie ja alle restlichen Kosten inklusive Gewinn ebenfalls erwirtschaften!
Wer selbst rechnen möchte, findet hier das Excel-Blatt "OTC-Kundenkalkulation".
Konsequenzen
Straffe Organisation unter Bewahrung des (freiwilligen, nicht aufgezwungenen!) Lächelns auf den Lippen aller Beteiligten lautet die Erfolgsformel, je höher der Anteil stückertragsschwacher Artikel ist.
Leider stehen sich die Menschen selbst im Wege, und das ist die größte Baustelle. Zudem spielt das aktuelle Zeitgeschehen den Kompliziertmachern, Mücke-zu-Elefanten-Zauberern sowie Bürokratie- und Dokumentations-Akrobaten in die Hände. Glaubt man den vielen Veröffentlichungen und Seminaren, gibt es nichts Einfaches mehr. Trivialste Vorgänge müssen heute gemanagt, dokumentiert und mehrfach geprüft werden. Die Mitarbeiter verinnerlichen das mehr und mehr. Viele Kollegen schicken ihre Lieben frohgemut auf Fortbildungen – und erfahren dann erst einmal, wie kompliziert heute schon das „Management“ eines Seifenspenders auf dem stillen Örtchen sein kann ... Menschen, die mit Herz und gleichzeitig Verstand handeln, unter Bewahrung eines gesunden Pragmatismus, haben es zunehmend schwer. Doch genau dies ist bitter nötig, wenn Sie nur eher geringe Stückerträge erwirtschaften. Gleichzeitig drohen zudem „Pseudo-Customer“ und ggf. sogar Kammersanktionen.
Was tun?
Ganz oben steht die Gesprächsführung im wörtlichen Sinn bei allen Mitarbeitern: Auf den Punkt kommen, lösungsorientierte Denke entwickeln, Dinge nicht unnötig kompliziert machen.
Doch in der Praxis dominieren: Zig Alternativen ins Spiel bringen (es gibt aber auch noch dies und das ...), unklare Fragetechnik (führt zu unnötigen Nachfragen), mangelnde Priorisierungsfähigkeit (was ist jetzt für den Kunden wirklich wichtig), unterentwickelte Techniken zur Gesprächsabkürzung und eleganten Gesprächsbeendigung, ohne den Kunden zu verprellen! Das gerne kombiniert mit mangelndem Entscheidungs- und Kulanzspielraum (Diskussionen um Centbeträge) oder auch schwachen Rechenfertigkeiten und schlechter Produktübersicht (kaum etwas kann zuverlässig im Kopf überschlagen werden, Folge: langwieriges Suchen in Listen).
Sie sehen: Mit wachem Blick entpuppt sich der HV-Bereich vielerorts als Baustelle. Arbeiten Sie daran, es lohnt sich! Wohlgemerkt: Es geht nicht um das anonyme Abfertigen der Kunden.
Einfache Hilfsmittel ergänzen dies: Eigene Info-Blätter und Fragebögen können viel Zeit sparen und kommen klar auf den Punkt, clevere Beratungsleitfäden, eigene Empfehlungslisten (in der EDV abbilden!), Beratungs-Drehscheiben u.a. straffen Gespräche auf kompetente Weise, Visitenkarten ersparen Ausführungen zur Erreichbarkeit. Entscheidend ist hier der schnelle, geordnete Zugriff!
Vergessen Sie nicht das Wichtigste: Ihre Vorbildfunktion! Die Mitarbeiter sollten sich von Ihnen abschauen können, wie es professionell funktioniert...
Ausblick
Entdecken die Krankenkassen wieder den Wert der OTC-Präparate? Schließlich hatte man diese im Jahre 2004 aus reinen Kostendämpfungsaspekten weitgehend aus der Verordnung genommen. Der Einspareffekt hielt sich in Grenzen. Rx-Präparate sind deutlich teurer. Ein Schwenk zurück zur alten Verordnungspraxis hätte für die Apotheken indes einen überraschend negativen Effekt: Jede Rx-Packung, die durch eine OTX-Packung ersetzt würde, bedeutet selbst in den relevanten, eher niedrigpreisigen Indikationsbereichen eine spürbare Stückertragseinbuße um die 3 € oder gar mehr!
Spätestens dann wäre eine intensive Diskussion über eine neue Basis der Honorierung aller apothekenpflichtigen Arzneimittel dringend erforderlich. Bis dahin freuen wir uns also eher über die Politik der kleinen Schritte...
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2016; 41(06):4-4