Zukunft Apotheke und Pharmazie (Teil 2)

Neue Märkte und Chancen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

„Im sonnigen Frühherbst“ lautete der Titel unseres ersten Teils. Positiv gewendet passt dazu: „Der September ist der Mai des Herbstes.“ Wer weiter in die Zukunft schaut, erkennt ein gewaltiges Veränderungspotenzial – und mit etwas Fantasie neue Rollen für die Apotheke.

Fassen wir erstmal zusammen:

  • Der Medizinbetrieb einschließlich Pharmazie steckt in der Fortschrittsfalle. Die heutigen Wege führen langfristig in die wirtschaftliche Überforderung der Gesellschaft.
  • Von der demografischen Entwicklung profitiert das Gesundheitswesen zwar noch am besten im Industrievergleich. Mit einem rein demografischen Wachstumsbeitrag von um oder gar unter 1 % pro Jahr hält sich das aber in engen Grenzen. Der Fortschritt treibt vor allem die Umsätze.
  • Technisch wäre bereits heute mehr möglich, erst recht in der Zukunft. Die Apothekentätigkeiten sind vielfach automatisierbar, nicht wenige (teils selbstverschuldet) unsinnig, künftige Hoffnungstätigkeiten (AMTS) erkennbar durch die Technik abzudecken.
  • Die Apotheken, wie das Gesundheitswesen an sich, sind hochgradig fremdbestimmt und vor allem durch (änderbare) Gesetze „geschützt“, nicht zu ihrem langfristigen Vorteil, falls nämlich die Wettbewerbsfähigkeit auf der Strecke bleibt. Indes ist das Arbeitsplatzargument der Gesundheitsbranche (insgesamt über 5 Mio. Beschäftigte) auch für die Politik sehr gewichtig. Das hilft, ungeliebte Teile des Fortschritts zumindest für eine gewisse Zeit fernzuhalten.
  • Vor diesem Gesamtbild sind die Apothekenzahlen immer noch verhältnismäßig hoch.

Grundlegende Lösungsansätze

Obwohl in der Öffentlichkeit noch nicht allzu sehr diskutiert, sind die Herausforderungen von den Experten durchaus identifiziert. Was zeichnet sich ab?

Die „Fortschrittsfalle“ lässt sich knacken! Dazu gibt es mehrere Ansätze, wahrscheinlich werden sie parallel beschritten.

Zum einen müssten sich die Preise der Pharmafirmen für die Innovationen v. a. bei den Massenerkrankungen um mindestens eine Kommastelle nach links verschieben, um den „Traum“ von Krebs, Demenz u.a. als gut therapierbare „chronische Erkrankung“ wahr werden zu lassen. Jahrestherapiekosten im überschaubar vierstelligen Bereich statt heute fünf- bis sechsstellige Beträge wären verkraftbar. Hätten wir dann noch leicht applizierbare Fertigarzneimittel (statt heutiger Rezepturcocktails), kämen die klassischen Apotheken sogar mehr denn je ins Spiel!

Aus heutiger Sicht, bei der heutigen Struktur der Pharmaindustrie und Wettbewerbslage, scheint dies jedoch kaum möglich. Hier müssten regelrechte Umbrüche stattfinden. Das ist nicht ausgeschlossen, in Teilsegmenten sogar wahrscheinlich, in der Breite fehlt dazu (noch) die unternehmerisch-technische Fantasie.

Der zweite Weg deutet sich daher immer mehr an. Er ist für die Apotheken ein Gamechanger schlechthin. Wir reden von Begriffen wie „Predictive Analytics“: Erkenne die Krankheit, lange bevor sie ausbricht (und dann teuer und für den Patienten belastend wird). Eliminiere die ersten Ansätze, packe das Übel an der Wurzel, bevor es ins Kraut schießt.

Bis dahin ist zwar noch eine lange, steinige Strecke voller Überraschungen zu gehen. Doch täglich werden neue Biomarker entdeckt, die den Weg zu massentauglichen und irgendwann sehr billigen, gleichwohl hochspezifischen Diagnoseverfahren, viele auf molekularer Ebene, manche physikalisch oder bildgebend, ebnen. Im Idealfall sagt Ihnen das Smartphone der Zukunft nach Druck auf den Diagnose-Fingersensor, dass die erste Krebszelle entdeckt wurde oder der erste Demenz-Biomarker, zig Jahre, bevor die Krankheit sonst ausgebrochen wäre. Das ist aber nur der erste Schritt.

Richtig spannend wird, was nun geschieht. Mutmaßlich wird es aber nicht die „Wunderpille“ sein (Apotheke!), welche Sie nun einnehmen können. Es werden andere (molekularbiologische) Verfahren in entsprechenden Zentren sein, welche eben die Wurzel des Übels packen. Die Krankheit bricht gar nicht erst aus, und damit gehen natürlich gewaltige, heutige Umsätze verloren.

Ein anderer Ansatz ist die „Reparaturmedizin“ mittels Tissue Engineering (Gewebezüchtung). Dergestalt nachgezüchtete und implantierte Langerhans-Zellen würden z. B. das ganze Diabetes-Geschäft auf den Kopf stellen, gut für die Volkswirtschaft, schlecht für heutige Anbieter. Je mehr solche Ansätze um sich greifen, umso stärker ist das Geschäftsmodell der heutigen Apotheke bedroht.

Andererseits ist offenkundig, dass dieser präventiv-kurative Ansatz eine der wenigen Lösungen aus dem Fortschrittskosten-Dilemma sein kann, und nebenbei enorm viel Leid erspart. Konzerne wie Google sind hier publikumswirksam vorgeprescht, viele andere schwenken auf diese Strategie um. Etliche „Pharmagiganten“ haben das auf dem Radar, bedeutet es doch eine Zäsur für die bisherigen Geschäftsmodelle.

Digitalisierung

Bis 2030 wird sich die Leistungsfähigkeit der Computer verhundert- bis vertausendfacht haben. Ausgehend vom heutigen Niveau deutet dies auf sehr ernstzunehmende Anwendungen der „künstlichen Intelligenz“ hin, die bislang Science-Fiction waren. Gerade die „Medium-Wissensberufe“ werden das zu spüren bekommen. Weniger betroffen sein werden Top-Führungskräfte, wirkliche Spezialisten, Strategen und Entwickler, die hoch qualifizierten „Dompteure“ der neuen Technik-Welt, aber auch Tätigkeiten, die eine Kombination aus hoher Feinmotorik und Wissen voraussetzen (Handwerker!). Und eben viele Aufgaben im Bereich der verbleibenden, von der Gesellschaft dann noch als sinnvoll erachteten „Mensch-zu-Mensch“-Interaktion.

Die Apothekentätigkeit bewegt sich irgendwo zwischen diesen ganzen Feldern. So besteht bereits heute ein Großteil unserer „pharmazeutischen Kompetenz“ in der Abfrage von Datenbanken und dem flinken Bedienen eines Computers – automatisierbar bzw. in die Arztpraxis verlegbar. Andererseits nimmt die Mensch-zu-Mensch-Kommunikation viel Raum ein. Das ist ausbaubar und bedarf der weiteren Profilierung.

Technologie

Medikamente aus einem „Pharma-Printer“ sind mehr als eine Spinnerei. Schon heute könnte man durch individualdosierte Mikropellets nicht nur die Einnahme (Altenheime!) vereinfachen und viel exakter therapieren, das Ganze wäre auch noch billiger! Das „Targeting“, die Applikation von Wirkstoffen exakt am Zielort, löst sich aus der Wunschvorstellung und tritt seinen Weg in die Realität an, nur:

Überwiegend werden diese neuen Applikationsformen nicht den Weg über den Apothekentresen gehen! Bereits entwickelt ist ein Implantat, welches gut 15 Jahre (!) für die Empfängnisverhütung sorgt – von außen steuerbar. Machen Sie also womöglich schon einmal einen Haken hinter viele Ihrer „Pillenrezepte“ ...

Mit der transkraniellen Magnetstimulation lassen sich z. B. Depressionen vergleichbar mit Medikamenten behandeln. Das illustriert, dass auch aus der Medizintechnik so manch Konkurrenz erwachsen wird.

Wir sehen Technologien, welche die klassischen „Apotheken-Schächtele“ als Pharma-Dinosaurier erscheinen lassen. Rechtliche Hürden verhindern das schnellere Vordringen. Das revolutionäre Momentum im Gesundheitswesen ist noch nicht erreicht, es geht noch zu gut.

Die Rolle der Apotheke

Mit der Fixierung auf das klassische Arzneimittel begibt sich die Apotheke offenkundig in zunehmend seichteres Fahrwasser. Andererseits dürfte der Bedarf an einem niedrigschwellig erreichbaren „Health Service-Point“ hoch bleiben. Die Apotheken können mit einigen Pfunden wuchern: Flächendeckung, respektable Raumausstattung, qualifiziertes Personal!

Alles geeignet, um daraus ein künftiges „Life Science-Center“ zu machen, ein Problemlösungs-Center gerade für die zunehmend Älteren rund um Gesundheit und Lebensführung. Die Apotheke kann in die Rolle des Lebensberaters hineinwachsen, in welcher der klassische Arzneimittelverkauf verblasst. Entsprechende Dienstleistungen, die Einbeziehung der (Medizin-)Technik und diverse Vermittlungs- und Agenturgeschäfte könnten die Verluste auffangen – sowie die öffentliche Förderung als sozialer Dienstleister. Gesundheit wird der Schwerpunkt sein, aber nicht nur.

Warum sich nicht auch um die Handreichungen im Alltag kümmern? Warum nicht eine „Spinne im sozialen Netz“ werden, die als erster Ansprechpartner dann ggf. an kompetente Fachleute weitervermittelt, die kleineren Probleme des Alltags aber selbst löst bzw. lösen lässt? Hier besteht gigantischer Bedarf, künftig in einer alternden und ängstlich-bevormundenden Gesellschaft noch wachsend.

Zeithorizonte

Zwischen Idee, Machbarkeit sowie Entwicklung und Umsetzung liegen oft lange, schwer kalkulierbare Zeiträume. Meist werden sie unterschätzt, manches erobert allerdings dann überraschend schnell die Gesellschaft.

Die nächsten 10 bis 15 Jahre stehen unter der Ägide der raumgreifenden Digitalisierung. Der Biotech- und Hochpreiser-Boom wird ebenfalls fortschreiten, mit wachsendem Knirschen (Kosten!). Das heutige Apotheken-Modell bleibt erhalten, doch Traumgespinste wie AMTS werden noch vor 2030 zu über 90 % schlicht durch die EDV routinemäßig erledigt. Die bessere Software, auch und gerade bei den Ärzten, entscheidet, und nicht 20.000 Apotheken auf Berufssinn-Suche.

Spezialfälle werden eher via Datenverbindung hochkompetent in spezialisierten „AMTS-Zentren“ gelöst werden, und nicht von der heute schon überlasteten „Quartiers-Apotheke“. Die klassische Apotheke wird ihren wichtigsten Part schlicht weiterhin als „Versorger + X“ spielen, wobei das X vor allem die menschliche Ansprechkomponente ist, der so wichtige „Transmissionsriemen“ zum Patienten.

Weiter fortschreitend, werden wir, geleitet von einer Art „digitalen Diktatur“ (das wird es wohl in bedeutenden Teilen werden …) den Wandel vieler Therapieverfahren erleben, Stück für Stück, ein langer Wandlungsprozess. Um 2040 sollten etliche der skizzierten Entwicklungen Realität sein. Märkte werden sich damit erheblich verschoben haben. Das Aussterben der „Apotheken-Schachteln“ hat dann schon lange Fahrt aufgenommen. Die Apotheke wird sich grundlegend gewandelt haben – oder weitgehend verschwunden sein.

Das Beschreiten dieser kapitalintensiven Technikpfade setzt voraus, dass unser bequem-friedliches Wohlstandsmodell Bestand hat. Das ist angesichts des weltweit hohen Konflikt- und Change-Potenzials keineswegs sicher. Sicher ist dagegen, dass es Veränderungen geben wird. Wahrscheinlich ist, dass diese in den nächsten Jahrzehnten weitaus größer ausfallen werden als in den vergangenen.

Das Modell der tragenden Lebensperspektive vom Berufseinstieg bis zur Rente wird somit auch für Apotheken unsicherer denn je – wie in der Industrie schon lange. Über die „Apotheke von übermorgen“ würde man wohl heute nur ungläubig staunen. Und doch passen sich die Menschen immer wieder an äußere Entwicklungen an; weiter geht es immer, wenn auch mal über (unbequeme) Umwege!

Apotheker Dr. Reinhard Herzog 72076 Tübingen E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2016; 41(18):4-4