Prof. Dr. Reinhard Herzog
Kaum ein politisches Statement kommt heute ohne die Beschwörung der ländlichen (Gesundheits-)Versorgung aus. Bei näherer Betrachtung wird hier fleißig an den nächsten Lebenslügen gestrickt. Dazu ein paar Fakten vorweg. Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes lebten in Deutschland 2015
- 9% der Bevölkerung in etwa 7.000 Gemeinden mit unter 3.000 Einwohnern,
- 32% in 3.400 Gemeinden bzw. Kleinstädten mit 3.000 bis 20.000 Einwohnern,
- 27% in 600 (kleineren) Mittelstädten mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern,
- 32% in den 77 Großstädten mit über 100.000 Einwohnern.
Gut 75% der Menschen – mit steigender Tendenz – leben damit in Regionen, die man zumindest als kleinstädtisch bezeichnen könnte, und gelten insoweit als Stadtbevölkerung. Die Landflucht hält an.
Zum tieferen Verständnis dieser Sachlage sei unseren Lesern, besonders denen in den Städten und ihren „Speckgürteln“, eine Partie über Land „weiter ab vom Schuss“ empfohlen. Gehen Sie jedoch nicht nur auf schönen Wanderwegen spazieren, bewundern dabei Flora und Fauna (demnächst vielleicht sogar auf Tuchfühlung mit Wolf und Luchs) und genießen anschließend die Einkehr im idyllischen Landgasthof.
Machen Sie sich vielmehr auch die Mühe, einige Dörfer zu durchwandern. Das gilt selbst für die Kollegen mit Landapotheke – seine unmittelbare Umgebung nimmt man nämlich oft erstaunlich unscharf wahr. Werfen Sie einen Blick auf den Zustand der Häuser, die Autos, die davor parken, die Infrastruktur, die Bewohner, auf die Immobilienpreise sowie die Angebots- und Nachfragesituation. Gehen Sie einmal in die Seitenstraßen, insbesondere in den Ortskernen. Und nun lassen Sie einmal die Begriffe „Infrastruktur“ und „Versorgung“ aus dem Blickwinkel heutiger junger Leute neu auf sich wirken. Wer will da bleiben? Der demografische Wandel nährt und beschleunigt sich selbst.
Das ist aber nur der einfachere Teil der Wahrheit. Viel kritischer ist ein ganz anderer Punkt, und der hört auf die Begriffe „Energiewende“, „Klimaschutz“ und „Dekarbonisierung der Gesellschaft“, was bis zur Mitte des Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen sein soll. Schauen Sie auf die Häuser, auf ihren Wert, und antworten Sie ehrlich: Wie soll das gehen? Die meisten Gebäude müsste man schlicht abreißen, denn ihr auf dem platten Land äußerst beschränkter Wert lässt eine aufwendige (Kern-)Sanierung wirtschaftlich gar nicht zu. Die zumeist älteren Bewohner haben vielfach auch gar nicht die Mittel dazu. Solvente Investoren werden einen Bogen darum machen, hohe Beträge in ein Projekt „neue Mitte Klein-Wolfshausen am Teich“ zu stecken, schon schlicht mangels Nachfrage.
Reden wir Klartext: Wer die Energiewende, Nachhaltigkeit und beste Versorgungsqualität ernst nimmt, muss das Thema „Landbevölkerung“ vollkommen neu denken – auf lange Sicht bis hin zur Aufgabe ganzer Dörfer und einer Umsiedelung der Bewohner in die gerade für Ältere viel geeigneteren Städte. Eine Sanierung des Bestandes, die Aufrechterhaltung der Infrastruktur und der Fahrwege für immer weniger Menschen sind irgendwann nicht mehr zu rechtfertigen. Das ist auch nicht im Sinne der dort Lebenden, von einigen „Eremiten“ und „Aussteigern“ vielleicht abgesehen. Selbst durch die hierzulande grassierende „Subventionitis“ verlangsamt man solche Prozesse allenfalls.
Andernorts werden enorme Anstrengungen unternommen, urbanes Leben hocheffizient und ökologisch-nachhaltig dank kluger Investitionen zu gestalten, mit bereits sichtbaren Erfolgen. An dieser Stelle seien China, Singapur und Japan hervorgehoben. So gibt es bereits begrünte Hochhäuser mit landwirtschaftlich genutzten Flächen, die energetisch weitgehend autark sind und sich zu bedeutenden Teilen selbst versorgen. Im Hinblick auf die Neuskalierung der Mobilität ist man ebenfalls viel weiter, während hierzulande noch „stärker, schneller, weiter“ favorisiert werden, wenn auch inzwischen abnehmend.
In Deutschland hält man eben lieber Sonntagsreden und scheitert trotz viel Geld regelhaft an seinen eigenen Zielen.
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(04):19-19