Helmut Lehr
Mit seinem Beschluss vom 08.07.2021 (AZ: 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die gesetzlichen Zinsen für Steuernachzahlungen – stattliche 6% p.a.– verfassungswidrig sind. Die bisherige, verfassungswidrige (!) Rechtslage zur sog. Vollverzinsung darf allerdings für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 weiter angewendet werden (vgl. AWA 20/2021).
Hinweis: Der Gesetzgeber hat jetzt bis zum Sommer Zeit, für Verzinsungszeiträume ab 2019 eine verfassungskonforme Neuregelung zu treffen. Vermutlich wird es dann zu einer deutlichen Absenkung des Zinssatzes kommen.
Während die Zinsen nach Ablauf einer 15-monatigen Karenzzeit ggf. zusätzlich zu einer Steuernachzahlung (oder auch -erstattung) festgesetzt werden, entstehen Säumniszuschläge, wenn Sie eine bereits festgesetzte und fällige Steuerschuld nicht rechtzeitig zahlen. Diese betragen pro angefangenen Monat der Säumnis sogar 1% (also 12% p.a.!) und sind damit doppelt so hoch wie die Steuerzinsen.
Steuertechnisch betrachtet sollen Säumniszuschläge zum einen ein Druckmittel sein, um (künftig) fällige Steuerforderungen durchzusetzen. Zum anderen sollen sie aber auch eine Gegenleistung für die verzögerte Zahlung darstellen – sie haben deshalb durchaus einen gewissen Zinscharakter.
Das Finanzgericht Münster hat jetzt in seinem Beschluss vom 16.12.2021 (AZ: 12 V 2684/21 AO) ebenfalls Zweifel daran geäußert, dass Säumniszuschläge in Höhe von 1% pro Monat verfassungsgemäß sind. Im Streitfall wurde eine vom Steuerpflichtigen beantragte Aussetzung der Vollziehung gewährt. Dieser hatte die im September 2019 fällige Grunderwerbsteuer erst im November 2019 gezahlt und sollte deshalb Säumniszuschläge entrichten.
Die Finanzrichter wiesen darauf hin, dass auch der Bundesfinanzhof bereits entsprechende Zweifel in einem nichtveröffentlichten Beschluss vom 31.08.2021 (AZ: VII B 69/21) geäußert hatte. Dies zumindest insoweit, als Säumniszuschläge eine zinsähnliche Funktion haben. Da die Regelung zur Höhe der Säumniszuschläge aber nur insgesamt verfassungsgemäß oder verfassungswidrig sein kann und es keine "Teil-Verfassungswidrigkeit" gäbe, wurde die Vollziehung im aktuellen Streitfall ausgesetzt!
Hinweis: Wenn Sie mit nennenswerten Säumniszuschlägen belastet werden, sollten Sie daher zumindest überlegen, ob Sie einen Rechtsbehelf einlegen und diesen mit den aktuellen verfassungsrechtlichen Zweifeln begründen möchten. Völlig unabhängig davon haben Anträge auf Erlass von Säumniszuschlägen oftmals in solchen Fällen Erfolg, in denen es sich um eine einmalige bzw. erstmalige verspätete Zahlung handelt und nachvollziehbare Gründe wie z.B. eine plötzliche Erkrankung vorgebracht werden können.
Umsatzsteuerzinsen auch EU-Rechtswidrig?
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Zinsen bezog sich grundsätzlich auf die Verzinsung als solche – er betrifft daher praktisch sämtliche Steuerarten. Die gerichtlich angeordnete weitere Anwendung der verfassungswidrigen Zinsregelung bedeutet deshalb für Sie, dass Sie Zinsen für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 nach wie vor zahlen müssen. Dies kann insbesondere bei Betriebsprüfungen für zurückliegende Jahre zu einer stattlichen Zusatzbelastung führen.
Zumindest für Zinsen zur Umsatzsteuer kommt aus einer anderen Richtung noch etwas Hoffnung. Die nationalen Regelungen zur Umsatzsteuer müssen nämlich grundsätzlich mit den Vorgaben des EU-Rechts in Einklang stehen. So müssen die Zinsregelungen den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Neutralität genügen. Da aber Nachzahlungszinsen nach bisheriger Rechtslage verschuldensunabhängig entstehen, muss bezweifelt werden, dass die derzeitige Regelung dem EU-Recht entspricht.
Interessant wird das insbesondere für Zinsbescheide, die für Verzinsungszeiträume vor 2019 weiterhin erlassen werden. Soll heißen: Betreffen aktuelle/neue Zinsbescheide die Umsatzsteuer, wäre trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der eindeutigen Haltung der Finanzverwaltung für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 zu überlegen, ob diese angefochten werden sollen.
Übrigens: Weil das Bundesverfassungsgericht vornehmlich über Steuernachzahlungs- und -erstattungszinsen zu entscheiden hatte, geht die Finanzverwaltung bis auf Weiteres davon aus, dass sonstige Zinsen (z.B. für eine vom Finanzamt gewährte Aussetzung der Vollziehung oder Stundung) weiterhin mit einem Zinssatz von 6% p.a. festgesetzt werden dürfen. Auch diese Vorgehensweise ist durchaus fraglich und wird früher oder später gerichtlich überprüft werden.
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Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2022; 47(05):16-16