Verfassungswidrige Abgeltungsteuer?

Einsprüche nur in Ausnahmefällen ratsam


Helmut Lehr

Das Niedersächsische Finanzgericht zweifelt an der Verfassungsmäßigkeit der Abgeltungsteuer. Für Anleger könnte das zukünftig zu einer höheren Belastung führen. Lesen Sie im folgenden Bericht, in welchen Fällen ein vorsorglicher Einspruch Sinn macht.

Seit 2009 werden Kapitalerträge direkt an der Quelle mit 25% Abgeltungsteuer (zzgl. Solidaritätszuschlag und evtl. Kirchensteuer) belastet. Getreu dem Motto: "Lieber 25% auf X als 42% auf nix" hatte der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück die "neue Besteuerungsart" propagiert.

Nun, gut 13 Jahre später, hält das Niedersächsische Finanzgericht das Prinzip der Abgeltungsbesteuerung mit einem Steuersatz von nur 25% für verfassungswidrig (vgl. Vorlagebeschluss vom 18.3.22, AZ: 7 K 120/21) – das Bundesverfassungsgericht muss jetzt entscheiden.

Nach Ansicht des Finanzgerichts führt die Abgeltungsteuer zu einem Verstoß gegen den sog. Gleichheitsgrundsatz von Artikel 3 des Grundgesetzes. Dies unter anderem, weil das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit verletzt werde – schließlich beträgt der Sondersteuersatz für Kapitaleinkünfte lediglich 25%, während andere Einkünfte mit bis zu 45% belastet werden. Die damals angeführten Rechtfertigungsgründe seien heute überholt, da zwischenzeitlich ein grenzüberschreitender Informationsaustausch über im Ausland erzielte Kapitalerträge gewährleistet sei. Darüber hinaus hat des Gericht Zweifel an dem "Vereinfachungseffekt" der Abgeltungsteuer.

Die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zielt ganz offenbar nicht darauf ab, die Besteuerung von Kapitaleinkünften gänzlich auszuhebeln: Vielmehr hält das Gericht die Abgeltungsteuer für zu niedrig. Sie sollten daher nach derzeitiger Lage der Dinge bei üblichen Fallgestaltungen nicht versuchen, durch einen entsprechenden Antrag die Besteuerung der Kapitaleinkünfte bei der Einkommensteuerveranlagung zu erreichen, um danach gegen den erlassenen Steuerbescheid Einspruch einzulegen.

Allenfalls bei besonderen Konstellationen könnte es sich anbieten, mit einem Einspruch gegen das Prinzip der Abgeltungsteuer vorzugehen.

Ein Beispiel aus der Praxis

Apotheker Meinhardt hat im letzten Jahr Kapitalerträge in Höhe von 9.000 € erzielt. Dabei sind ihm ausnahmsweise Werbungskosten in Höhe von 5.500 € entstanden.

Da die Abgeltungsteuer mit einem Werbungskosten-Abzugsverbot einhergeht, versteuert seine Bank die 9.000 € mit (vereinfacht) 25% und behält für Herrn Meinhardt 2.250 € Steuer ein.

Hätte Herr Meinhardt die Option, die Kapitalerträge unter Anrechnung seiner Werbungskosten zu versteuern, müsste er bei einem Steuersatz von (z.B.) 42% lediglich 1.470 € Einkommensteuer zahlen (Einkünfte in Höhe von 3.500 € x 42%).

Herr Meinhardt könnte deshalb darauf spekulieren, dass die Abgeltungsteuer für verfassungswidrig erklärt wird und Kapitaleinkünfte zukünftig mit dem persönlichen Steuersatz (unter Berücksichtigung der Werbungskosten) erfasst werden. Vor diesem Hintergrund könnte er gegen seinen Einkommensteuerbescheid vorsorglich Einspruch einlegen und ein Ruhen des Verfahrens beantragen.

Hinweis: Diese Vorgehensweise kann sich ganz allgemein in Verlustfällen anbieten, sofern keine anderweitigen Verlustabzugsbeschränkungen entgegenstehen. Sind allerdings ausreichend andere positive Kapitaleinkünfte vorhanden, mit denen die Verluste verrechnet werden können, spricht dies für eine "automatisierte" Verrechnung durch die Bank im Rahmen der Abgeltungsbesteuerung. Im Zweifel sollten Sie die Gesamtsituation frühzeitig mit Ihrem steuerlichen Berater besprechen.

Helmut Lehr, Dipl.-Finanzwirt (FH), Steuerberater, 55437 Appenheim

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2022; 47(15):18-18