Dr. Uwe Weidenauer
Deutschland hat ein demografisches Problem: Die Gesellschaft überaltert zunehmend, und der Pflegebedarf steigt enorm. Statistisch kann dieser Sachverhalt mit dem sogenannten "Altenquotienten" gut erfasst werden – einer bislang wenig beachteten Kennzahl, die das Bundesamt für Statistik fortlaufend veröffentlicht (siehe Abb. 1).
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Der Altenquotient setzt in Beziehung, wie viele Personen im Alter ab 65 Jahren (Rentenalter) in Relation zu 100 Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren (Erwerbsalter) stehen. Die Kennzahl beziffert insofern die arbeitsfähige Bevölkerungskohorte in Relation zu dem Bevölkerungsanteil, dem Altersbezüge zustehen.
Aufgrund der geringeren Lebenserwartung in den Nachkriegsjahren war der Altenquotient im Jahr 1950 relativ niedrig: 16 Personen im Rentenalter standen damals 100 Personen im Erwerbsalter gegenüber. Der Effekt des Geburtenrückgangs und die zugleich steigende Lebenswartung führten zu einem Anstieg des Werts auf 27 (1979) und 32 (1991). Zwischen 1950 und 1979 stieg die Zahl der über 65-Jährigen um 5,5 Millionen, während die Zahl der 20- bis 65-Jährigen lediglich um 3,1 Millionen zunahm.
Der rasante Anstieg des Altenquotienten seit den 1990er-Jahren ist ein deutlicher Indikator für die Verschiebung der Altersstruktur in der deutschen Bevölkerung. War die Geburtenrate in den Nachkriegsjahren ab 1955 bis 1964 mit etwa 2,5 Kindern je Frau noch außergewöhnlich hoch, ging sie ab Mitte der 1960er-Jahre stark zurück und erreichte Mitte der 1980er ihren Tiefpunkt mit gerade noch 1,3 Kindern je Frau, was als außergewöhnlich niedrige Geburtenrate gilt. 1964 war der geburtenstärkste Jahrgang der sogenannten Babyboomer-Generation, die sich nun in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand verabschieden wird.
Anhaltende Landflucht
Dramatisch wird es bei einer vergleichenden Betrachtung des Altenquotienten zwischen den Flächen- und Stadtstaaten, die allesamt Großstädte sind (Berlin, Bremen und Hamburg): Während der Altenquotient insbesondere in den ostdeutschen, aber auch westdeutschen Flächenstaaten rasant ansteigt, bleibt er in den Großstädten relativ stabil (siehe Abb. 1). Im Jahr 2021 wiesen die Großstädte Hamburg (29) und Berlin (31) die niedrigsten Werte auf, gefolgt von Baden-Württemberg (35), Bayern (35) und Hessen (35). Am anderen Ende der Skala lebten 2021 anteilmäßig die meisten älteren Menschen in Sachsen-Anhalt (50), Sachsen (48), Thüringen (48), Mecklenburg-Vorpommern (46) und Brandenburg (45). Diese Zahlen widerspiegeln eindrucksvoll die anhaltende Landflucht, die immer mehr Erwerbsfähige in die großen Ballungsgebiete zieht. Gerade junge Leute ziehen häufig aus den ländlichen Regionen in die Großstädte und wollen dort möglichst zentral leben, während die ältere Bevölkerung – insbesondere Rentner – auf dem Land wohnen bleibt, wo sie Besitz und ihr soziales Netzwerk aufgebaut hat.
Da mit steigendem Alter auch der Bedarf an Pflege und Gesundheitsprodukten sowie -dienstleistungen rasant steigt (vgl. Pflegebedürftigkeit in Abb. 1), liegen exakt hier enorme strategische Wachstumsoptionen für Land-Apotheken und andere Gesundheitsdienstleiter. Vorausgesetzt, sie bekommen das Personalproblem in den Griff und bieten zeitgemäße Konzepte zur wohnortnahen Versorgung der alternden Bevölkerung.
Strategische Optionen für Landapotheken
Die Zahl der Apotheken ist im ersten Halbjahr 2022 um weitere 205 Betriebe zurückgegangen: 30 Neueröffnungen standen 235 Schließungen gegenüber (Quelle: ABDA). In diesem Zusammenhang warnte ABDA-Präsidentin Overwiening davor, die Apotheken – wie mit dem unlängst beschlossenen GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – weiter zu belasten. Gerade im ländlichen Raum würden sich Apotheken wirtschaftlich oft nicht mehr tragen und als logische Konsequenz würden immer mehr ihre Pforten für immer schließen. Dass dies im allgemeinen Trend liegt, wonach der klassische Einzelhandel und Dienstleistungssektor im ländlichen Raum immer mehr verschwinden, ist nur ein schwacher Trost.
Zugleich ist, wie bereits ausgeführt, mit einem enorm steigenden Bedarf an Gesundheitsprodukten und -dienstleistungen gerade in den ländlichen Regionen aufgrund des weiter steigenden Altenquotienten zu rechnen! Vor diesem Hintergrund schmerzt das Schließen zahlreicher Dorf-/Land-Apotheken umso mehr. Die unvermeidliche Konsequenz sind immer größere Versorgungslücken außerhalb der städtischen Regionen: Mitunter müssen Patienten im ländlichen Raum heute schon 10 bis 20 Kilometer zurücklegen, um die nächstgelegene Apotheke zu erreichen.
Unternehmer müsste man sein
Für die verbliebenen Standorte zeichnet sich ein überproportionales Marktwachstum ab, denn dieser Markt muss bedient werden. Im Gegensatz zum klassischen Handel sind die Kunden das öffentliche und private Gesundheitswesen, das sich auch in Krisen als solvent erwiesen hat. Für Gesundheitsunternehmer eine klare strategische Option!
Unternehmer deshalb, weil man zukünftig in größeren Dimensionen denken muss. Will heißen: Die kleine, in ihrem Umsatzradius stark beschränkte Dorf-Apotheke hat wirtschaftlich oftmals keine Chance. Gefragt sind Innovationen und moderne, weitreichendere Konzepte als bisher: Vorstellbar sind neben den klassischen Rezeptsammelstellen sämtliche (digitalen) Kommunikations- und Bestellmöglichkeiten, flexible Botendienste über die gesamte Öffnungszeit, Abholterminals, die E-Rezepte 24/7 beliefern können, und natürlich ein möglichst breites Warensortiment, um eine maximale Lieferfähigkeit auch ohne Großhandel sicherzustellen.
So gesehen, sollte der demografische Wandel keineswegs nur als Problem gesehen werden, bietet er doch zugleich auch gute Chancen eines sehr wahrscheinlich deutlichen Marktwachstums insbesondere im ländlichen Raum. Insofern überrascht es auch nicht, dass sich einige Apotheker nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie entschieden haben, die einst laufstarken Innenstadt- oder Einkaufscenter-Lagen gegen ländliche Standorte zu tauschen.
Nachdem die einstigen Toplagen während der Lockdowns oftmals so gut wie keine Laufkundschaft mehr verzeichnet haben, kommt das Geschäft auch nach Ende der Corona-Restriktionen nur noch schleppend, wenn überhaupt wieder in Gang. Die hohen Betriebskosten – vor allem für Mieten und Personal – können mitunter nicht mehr erwirtschaftet werden. Im Gegensatz dazu locken die ländlichen Lagen mit deutlich geringeren Betriebskosten und zugleich – als Folge der Demografie – einem hohen Wachstumspotenzial.
Dr. Uwe Weidenauer, Apothekeninhaber, Geschäftsführer Gesundheit247 GmbH, 69469 Weinheim, E-Mail: awa@gesundheit247.academy
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2022; 47(23):10-10