Ebenjener Betrag wird für 2022 als Einsparungen aus kassenindividuellen Rabattverträgen ausgewiesen. Doch was ist davon zu halten?
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Ein Betrag von 5,5 Mrd. € ist auf den ersten Blick schon atemberaubend, pro Apotheke im Schnitt gut 300.000 €. Damit diese Summen überhaupt realisiert werden können, müssen die Apotheken manch Klimmzüge vollziehen. Der Preis dort beträgt gut 3 Minuten Bürokratiezeit (oder rund 2,00 € Zeitkosten) pro GKV-Rezept, wie eine Studie des Verbandes Innovativer Apotheken (VIA) in Kooperation mit dem Autor Ende letzten Jahres gezeigt hat. Der größte Anteil steckt allein im Handling der Rabattarzneimittel. So weit, so schlecht.
Doch haben die 5,5 Mrd. € Einsparungen aus individuell ausgehandelten Wirkstoffverträgen überhaupt eine reelle Grundlage, oder handelt es sich nicht eher um zumindest partielle Luftbuchungen? Redet man von einer Einsparung, stellt sich immer die Frage nach der Bezugsbasis. Im Verbraucherrecht hat dies bereits Gerichte auf den Plan gerufen, wenn es um Preiswerbung geht. Einfach zu schreiben, „Sie sparen 30 %“ oder „3,00 € billiger“ geht so nicht durch, wenn man nicht die Bezugsbasis benennt – also in der Apotheke den regulären Verkaufspreis außerhalb des Aktionszeitraums, oder den „Listenpreis“ nach alter Arzneitaxe.
Problematische Bezugsbasis
Die Ersparnisse aus den Rabattverträgen kann man ebenfalls auf diese Listenpreise der einzelnen Präparate beziehen, oder aber auf die Festbeträge für die jeweiligen Wirkstoffe bzw. Wirkstoffzubereitungen. Wenn ein Wirkstoff XY ausgeschrieben wird, und Firma F bekommt den (oder auch einen) Zuschlag, dann kann man die bisher von dieser Firma aufgerufenen Listenpreise für die einzelnen Pharmazentralnummern heranziehen und mit den real verordneten Packungen abgleichen. Bei einer Newcomer-Firma, bisher mit diesem Wirkstoff noch nicht am Markt, wird man auf die Festbeträge (oder andere Konkurrenzpreise) ausweichen müssen. Angesichts der erzielten Rabatte im hohen zweistelligen Prozentbereich (bzw. der absolut hohen Gesamtsummen) stellt sich aber die Frage, wie realistisch überhaupt die Bezugsbasis ist, oder ob das nicht Phantasiepreise sind, die eben keiner bezahlt. Sehr hohe Rabatte sprechen typischerweise für problematische Märkte. Und warum wollen, müssen oder können Anbieter so hohe Rabatte geben?
Arme Industrie?
Werfen wir einen kleinen Blick in die Generika-Industrie: Herrscht da wirklich die blanke Not? Nun, die EBITDA-Marge von beispielsweise Sandoz – eine 9-Milliarden-Dollar-Company kurz vor der Abspaltung von Novartis als eigenständige börsennotierte AG – wird mit 18 % bis 19 % in 2023 prognostiziert (2021: 21 %). Angepeilt werden mittelfristig 24 % bis 26 %. HEXAL gehört übrigens zu dieser Sandoz-Gruppe. Auch eine hoch verschuldete Firma TEVA (rund 15 Mrd. $ Umsatz global) macht 28 % bis 30 % EBITDA, schreibt aber zurzeit unter dem Strich Verlust, u.a. wegen der hohen Verschuldung und Sonderbelastungen. Nach Armut auf Ebene der operativen Gewinne sieht das alles jedoch nicht gerade aus. Das sind natürlich summierte Ergebnisse über das weltweite Sortimentsspektrum hinweg. Bricht man es auf einzelne Länder oder Präparate herunter, schaut es teilweise völlig anders aus.
Schrauben nicht überdrehen
Kluge Einkäufer wissen, was etwas wert ist, und wann man den Bogen überspannt, oder: „Nach fest kommt ab“ – bzw. erst gar keine Lieferung mehr an. Autohersteller haben das schon vor vielen Jahren schmerzhaft lernen müssen, wenn Zulieferer über Gebühr ausgequetscht wurden und einige Zeit später die Garantiekosten je Auto in den teils deutlich vierstelligen Bereich hochschossen. Im Arzneimittelbereich wird teilweise erst gar nicht mehr geliefert. Es würde auch nicht verwundern, wenn wir mal einen richtigen Qualitätsskandal bekämen, der weit über das Nitrosamin-Debakel (2018 beginnend mit Valsartan) hinausreichen würde. Die Lernkurve bei der Arzneimittelbeschaffung steht somit vor einer Neuformierung. Die Rabattverträge heutiger Prägung haben ihren Zenit überschritten.
Vernünftige Preise?
Eine Alternative könnte darin bestehen, vernünftige Preise „bottom up“ seitens der Krankenkassen (bzw. zu beauftragender Forschungsinstitutionen) zu berechnen. Das ist Fachkundigen anhand der Wirkstoffkosten und Darreichungsformen unter Einrechnung auskömmlicher Overhead- und Gewinnmargen ziemlich präzise möglich. Fußend auf diesen errechneten Sollpreisen wird das Festbetragssystem neu belebt. Und warum sollten Firmen – in sozialverträglich festgelegten Grenzen – nicht auch etwas oberhalb des Festbetrages anbieten dürfen, sodass Kund:innen wieder Wahlrechte bekommen, bzw. die Apotheken ihre Kund:innen entsprechend überzeugen können? Das wäre ein gutes Stück mehr „Beinfreiheit“ für die Apotheken.
Das Rattenrennen (ein „race to the bottom“ – stets der Billigste erhält den Zuschlag) ist nicht mehr zukunftstragend in einem globalen Umfeld, in welchem wir nicht mehr die erste Geige auf dem Arzneimittelmarkt spielen. Dann gehen die Präparate eben woanders hin. Und das passiert umso stärker, je weniger man selbst eine Orientierung über den eigentlichen Wert des gewünschten Produktes und seine sachlogisch nicht unterschreitbaren Preisgrenzen hat. Nebenbei verhindert eine solche Orientierung auch, dass man zu viel bezahlt; das soll im Pharmageschäft ebenfalls gar nicht so selten vorkommen, denn nicht alles sind Fiebersäfte oder gerade knappe Antibiotika.
„Irgendwann kann man sich keine billigen Dinge mehr leisten.“
„Rabatt ist der nachträgliche Abzug auf einen Aufschlag.“
(bekannte Sprichwörter, Herkunft unbekannt)
Prof. Dr. Reinhard Herzog
Apotheker
Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.