Nur wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht. Dieser Spruch stammt bereits von Rosa Luxemburg. Und inzwischen ist er für die Apotheken so brisant zutreffend wie selten.
Think big!?
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Ein weiteres Bonmot in diesem Kontext: „Wie funktioniert Beamten-Mikado? Wer sich rührt, verliert!“ Tatsächlich ist der Apothekerberuf schon immer ein „Schraubstock-Beruf“ gewesen, mit durchaus beamtenähnlichen Elementen. Eingezwängt in kaum mehr überschaubare Regularien, abhängig von Verordnern, dem Wohlwollen von Kostenträgern und Politik und den bisweilen sehr speziellen Wünschen und Launen der Kunden ausgesetzt – das war und ist Apothekenalltag.
Solange wenigstens das „Schmerzensgeld“ stimmte und man sich im Schraubstock halbwegs einrichten konnte – weil man sich wegen auskömmlicher Rahmenbedingungen nicht allzu stark bewegen und erst recht nicht anecken musste – solange war die Apothekenwelt in Ordnung. Mit einer zeitweise beinahe beamtenähnlichen Sicherheit, aber durchaus Einkommensperspektiven wie ein Unternehmer, zumindest bei guten Standorten. Ein Stück weit erinnert das gar an autoritäre Staatssysteme wie China: „Du schweigst, dafür sorge ich für Dein Wohlergehen.“
Viele Jahre ging dieser Deal auf, man fühlte sich geehrt, einen gesetzlichen „Versorgungsauftrag“ erfüllen zu dürfen. Dieser Auftrag wird nun mehr und mehr zum Mühlstein. Qua Kontrahierungszwang müssen sogar defizitäre Leistungen erbracht werden, die jeder selbstständige Kaufmann von sich weisen und erst gar nicht anbieten würde.
Die bequemste Lösung – übrigens auch für die Politik – wäre es, man kittet diese sich abzeichnenden Bruchlinien schlicht mit mehr Geld. Tatsächlich passiert das ja quer durch die Republik, man schaue nur auf die inzwischen unübersehbaren Förderpakete, heute gern für den Klimaschutz, die Konjunktur im Allgemeinen oder für diverse Lobbygruppen, die sich lauthals durchsetzen konnten. Meist reden wir von Milliardenbeträgen, darunter läuft nichts mehr. Zahlen tun am Ende ja nicht die Politiker oder die Sozialkassen, sondern die Bürger. So what!? Ja, man kann den Groll in der Kollegenschaft verstehen, wenn es rechts und links Manna regnet, und man selbst im Abseits steht.
Geld bekommen oder neue Märkte erobern?
Dennoch greift das Allheilmittel Geld zu kurz. Ja, dieses Schmiermittel ist selbstredend nötig, um den Apothekenmotor am Laufen zu halten. Aber auch eine funktionierende Zündung, kräftige Kolben und Antriebswellen, oder, um im Bild zu bleiben, demnächst gänzlich neue Antriebssysteme analog der E-Mobilität. Und da kommen sie wieder ins Spiel, die Fesseln und der Schraubstock. Neue Antriebssysteme bedeuten ein gutes Stück weit Disruption, Out-of-the-Box-Denken, Freiheit und Kreativität.
Solche neuen Antriebssysteme wären nicht nur evidenzbasierte, gesundheitspolitisch wie volkswirtschaftlich positive Dienstleistungen (bei denen man aufpassen muss, sich nicht teuer Arbeit einzukaufen), sondern zudem die Erschließung neuer Märkte. Diese reichen von handfesten Produkten wie immer ausgefeilteren Früherkennungs-Tests und Diagnostika über pharmakogenomische Analysen bis hin zu der sich rasant entwickelnden Medizintechnik und Elektronik.
Hochspannende Techniken der Individualmedikation stehen vor der Tür, z.B. der 3D-Druck für Altenheime alternativ zur heutigen Verblisterei. Aber nicht nur das: Das Megathema Datenmanagement, insbesondere an der Schnittstelle zu den oft unbeholfenen Kunden, bietet noch ein Potenzial, welches man nur schemenhaft erahnen kann.
Zudem werden wir eine moderne Position zu Reizthemen wie Automatisierung, künstlicher Intelligenz, hochleistungsfähigen Datenbanken und Entscheidungsmanagement-Systemen finden müssen, oder diese Systeme werden uns überrollen – spätestens, wenn der politische Schutzschirm löchrig wird. Am Ende wird die entscheidende Frage sein, unter wessen Regie die Automatisierung stattfindet, und nicht, ob sie kommt.
Wir reden heute von klassischen Warenumsätzen in der Apotheke (ohne Spezialsegmente) von rund 700 Euro pro Kopf der Bevölkerung und Jahr. Dass die oben nur angetippten zahlreichen neuen Segmente und Leistungen leicht in einen ebenfalls dreistelligen Pro-Kopf-Umsatz jährlich hineinwachsen können, liegt auf der Hand. Nicht von jetzt auf gleich, aber perspektivisch. Und welche Potenziale in der Automatisierung liegen, erst recht beim heutigen Fachkräftemangel, dürfte ebenfalls schnell offenbar werden.
Denken Sie mal an ein durchdigitalisiertes AMTS: Patienten-Arzneimittel aus der ePA abgerufen, OTC-Arzneimittel schnell dazu gescannt, in wenigen Augenblicken erstellt ein KI-basiertes Softwaresystem die Analyse, Sie schauen nochmal darüber und überführen dies in die Lebensrealität der Patienten. Zeitersparnis 70 % oder 80 %, das geht dann für deutlich weniger als die heutigen 90 Euro und könnte immer noch rentabel sein …
Mehr Freiheit wagen!
Dafür muss sich der Berufsstand aber bewegen, manch heutige Fußfessel und kafkaeske Schrulligkeit abstreifen und über die künftige strukturelle Aufstellung ergebnisoffen nachdenken. Mit dem alleinigen alten Denken in demnächst elektronischen Rezeptblättern und der „Schachtel-Versorgungslogik“ ist es nicht getan. Think big – auch wenn es schwerfällt, weil man in Dritte-Welt-Manier einem simplen Hustensaft – einem Schächtelchen – hinterherrennen muss. Sonst werden es andere tun, bzw. sie tun es schon, allerdings für ihr eigenes Wohlergehen.
„Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.“ (Marie von Ebner-Eschenbach)
Prof. Dr. Reinhard Herzog
Apotheker
Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.