Streiks aus der Portokasse?

Die „Eskalationsstrategie“ beginnt Fahrt aufzunehmen. Inzwischen werden – z.B. aus Hessen – bereits mehrtägige Streiks gefordert. Abgesehen von der politisch-strategischen Dimension haben solche Streiks dann auch spürbare Kosteneffekte.

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Abgesehen davon, inwieweit der Begriff „Streik“ überhaupt juristisch zutreffend ist – Apotheken als unternehmerische Leistungserbringer und Zulieferer sind per se keine Arbeitnehmer und insoweit keine Streikenden: In Ermangelung einer dahinterstehenden Gewerkschaft gibt es auch keine „Streikkasse“, die sonst aus den Mitgliedsbeiträgen gespeist wird. Hier könnten, vorbehaltlich einer juristischen Feinprüfung, die Standesorganisationen stellvertretend in die Bresche springen. Ansonsten bleiben die Kosten bei jeder Apothekeninhaberin und jedem Inhaber hängen. Doch über welche Beträge reden wir, direkt und indirekt? Und wie steht es um das Chancen-Risiko-Verhältnis?

Die Apotheken sind zu, na und?

Schlimmstenfalls heißt es nach einigen Tagen Streik: Schau her, die „Apothekers“ streiken, und kaum einer merkt es … 

Zwar wird man sich eher die Zunge abbeißen, als dies einzugestehen, aber ganz so fernliegend ist es nicht.

Denn Menschen finden Alternativen: Manches ist vielleicht doch gar nicht so wichtig bzw. eilig (dass wir unter dem Strich, von speziellen Konstellationen abgesehen, tendenziell eher eine Über- als Untermedikamentierung haben, dürfte common sense sein; allein die Mülleimer sind stumme Zeugen). Im OTC-Segment bieten für leichtere Alltagsbeschwerden die Drogeriemärkte und Lebensmittler eine breite Auswahl. Der Plazeboeffekt tut das Übrige. Und dann ist da ja noch das Internet, angefangen bei den gefürchteten Versandapotheken bis hin zu verschiedensten „Gesundheitsshops“, die gern „unter dem Radar“ segeln, gleichwohl ein beachtliches Sortiment aufzuweisen haben – bis in den Grau- oder gar Schwarzbereich hinein. Nun, wegen ein, zwei Tagen Streik werden die Menschen nicht grundlegend ihre Beschaffungswege umstellen. Der Grad ist aber schmal, und oftmals reicht der entscheidende Impuls, es eben mal woanders zu versuchen. Ist man dort zufrieden, wird es ganz schwierig, solche Kunden wieder auf dem früheren Level zurückzugewinnen. Das ist ad hoc schwer zu messen, das merkt man erst (zu) spät. 

Damit sind wir bei den Kosten.

Zahlen, Zahlen …

Gut die Hälfte der Apotheken dürfte einen täglichen Rohertrag im Bereich von 1.500 € bis 3.000 € erwirtschaften. Ist die Apotheke zu, fällt dieser vorderhand weg. Ein bedeutender Teil wird nur verschoben werden, also vorher oder hinterher in der Apotheke aufschlagen – was aber auch entsprechende Zusatzbelastungen bedeutet. Diese Tage vor und nach einem (angekündigten) Streik werden an der Basis nicht vergnügungssteuerpflichtig und bedeuten insoweit auch Zusatzaufwand. Einiges – geschätzte 10 % bis 20 %, vielleicht gar etwas mehr – wird aber, siehe oben, ganz unter den Tisch fallen oder der Bedarf anderweitig gedeckt. Das bedeutet Ertragsverluste im Bereich einiger hundert Euro pro Tag für die Mehrzahl der Apotheken. Nicht schön, aber dafür braucht es (noch) keine Streikkasse. Das ist eher Portokasse. Möglicherweise nicht mehr Portokasse sind jedoch die längerfristigen Wirkungen – auf die Kunden wie auf das gesundheitspolitische Umfeld.

Als unmittelbare Reaktion könnten Kostenträger auf den Gedanken kommen, die Lieferverträge näher anzuschauen und Sanktionen anzudenken. Streik ist da nicht vorgesehen, doch was kann bei „Leistungsverweigerung“ drohen? Apotheken werden, anders als Ärzte, vor allem als materielle Zulieferer gesehen, die zu funktionieren haben. Auch hier wird bei wenigen Tagen kaum was passieren. Überspannt man den Bogen, sieht es anders aus. Sollten einmal die Rezeptabrechnungen stocken und die Kassen insoweit „streiken“, wollen wir uns das besser gar nicht ausmalen.

Oh wehe, wenn ich auf das Ende sehe?

Bei einigen Entscheidungsträgern und „opinion leaders“ könnten im Gefolge allzu lauter Aktionen allerdings Gedanken aufkommen, sich unabhängiger von einer Institution wie der althergebracht organisierten, heutigen Apothekenlandschaft zu machen. Dass diese Form der Berufsorganisation nicht die dynamischste und innovativste ist, dürfte in der Politik gesetzt sein. Aber bislang höchst verlässlich. Wird die klassische Apotheke nun aber unbequemer, erheblich teurer und sogar unzuverlässiger, könnten grundlegende Ansichten und Gewissheiten kippen. Jeder Profi weiß zudem: Wer einer Erpressung nachgibt (ein Streik ist im Grunde nichts anderes), wird bei nächstbester Gelegenheit wieder das Opfer.

Sich unabhängig machen von einzelnen Lieferanten und Ländern liegt ja gerade im Trend. Die „Liberalisierung“ könnte schnell wieder auf den Tisch kommen. Wäre ein „buntes“ System aus nach wie vor eigenständigen Apotheken, Handelskonzernen, Apotheken-Genossenschaften (analog „EDEKA“ im Lebensmittelhandel) und Kapitalgesellschaften („Apotheken-AG“ an der Börse) nicht zuverlässiger und streikresistenter, zudem wettbewerbsorientierter und innovativer? Wäre es nicht höchste Zeit, andere Versorgungsformen im Rahmen der Technisierung und Digitalisierungs-Offensiven voranzutreiben? Vom „Apothekenbus“ in ländlichen Regionen über die gefürchteten Automaten-Apotheken bis hin zu den Möglichkeiten der Telepharmazie auch unabhängig von stationären Vor-Ort-Betrieben? Die Datenbasis wird gerade mit dem E-Rezept und der E-Patientenakte gelegt. An diesen Punkten geht es ans Eingemachte. Aber das Undenkbare wird schnell denkbar, wenn auch wir bislang Undenkbares in den Ring werfen.

Im Skat würde man von einem „Grand ohne Zwei“ (gar ohne Drei?) sprechen, der gerade angesagt wird. Im Grunde wenig belastbare Trümpfe, die überstochen werden können. Hoffentlich stehen dafür wenigstens die „langen Farben“, die heruntergespielt werden können. Solche Spiele erfordern ausgekochte Profis, eine gute Portion Bluff und ein kühl-kalkulierendes Pokerface – aber auch eine realistische Einschätzung des Erreichbaren. Sonst hat man sich rasch überreizt. Bei 18 passen und den braven Kartenhalter mimen ist aber auch keine Option mehr.

Der wunderbarste Irrtum aber ist derjenige, der sich auf uns selbst und unsere Kräfte bezieht: dass wir uns einem würdigen Geschäft, einem ehrsamen Unternehmen widmen, dem wir nicht gewachsen sind, dass wir nach einem Ziel streben, das wir nie erreichen können. Die daraus entspringende tantalisch-sisyphische Qual empfindet jeder nur um desto bitterer, je redlicher er es meinte. (Johann Wolfgang von Goethe, 1749 - 1832)

„Hüte dich, o Mensch, höher emporzusteigen, als deine Kraft dich zu tragen vermag.“ (Hildegard von Bingen, 1098 - 1179)

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Prof. Dr. Reinhard Herzog

Apotheker

Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.