Zufriedenheit dürfte in den Apotheken gerade rar gesät sein. Wie konnte es so weit kommen? Waren die heutigen Probleme nicht bereits lange absehbar? Welche Lehren lassen sich daraus für die Zukunft ziehen? Eine kommentierende Rückschau mitsamt einem Blick in die Zukunft.
© Reinhard Herzog 2024, KI-generiert mit OpenArt Image Creator
Spulen wir im Zeitraffer zurück. Man staunt, wie vor gut 20 Jahren das „GMG“, das Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz von SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (und bereits mit Karl Lauterbach im Hintergrund) beachtlich widerstandsarm Realität werden konnte. Der Autor bezeichnet diese Reform gern als die „Unvollendete“, denn an so ziemlich allen Stellen eines bis dato in sich schlüssigen Systems des „Apothekers in seiner Apotheke“ – ohne Fremd- und Mehrbesitz, mit Preisbindung auf 95 Prozent des Sortiments, geschützt vor dem Versandhandel – wurde die Axt angelegt, ohne das System in Gänze zu Fall zu bringen.
Zu Beginn des Jahres 2004 dann der Paukenschlag: Zulassung von maximal drei Filialbetrieben je Approbation im näheren Umkreis, Umstellung der Rx-Vergütung von einem degressiven Zuschlagssystem auf das Kombimodell, Aufhebung der Preisbindung von apothekenpflichtigen Arzneimitteln sowie die Zulassung des Versandhandels für Humanarzneimittel, neben weiteren Details. Die Grundlagen für die arbeitsträchtigen und inzwischen immer stärker problembehafteten Rabattverträge wurden gelegt. Es fehlte nur noch der Fremd- und unbegrenzte Mehrbesitz, wenige Sätze im Gesetzestext, und die Apothekenlandschaft wäre eine komplett andere geworden. Auch so entfaltete das GMG einen Strukturwandel, der uns bis heute beschäftigt – insbesondere die Spaltung in immer größere, erfolg- und ertragreiche Betriebe auf der einen und die Verdrängung der Schwächeren auf der anderen Seite. Jahrelang beschäftigte die Filialisierung die Branche, nicht immer glorreich. Im Gefolge einer langen Phase stabiler Lebenshaltungskosten trug das Kombimodell über die Jahre, zumal bald der Höhepunkt der Apothekenzahlen erreicht war, bis dann ab den 2010er Jahren der Rückwärtsgang eingelegt wurde. Der Begriff „Friedhofsdividende“ kam auf.
Abb. 1: Paradiesische Apothekenzustände bis weit in die 2000er-Jahre hinein!? Generiert mit OpenArt.
Die guten „Merkel-Jahre“
Um 2012, unter einer schwarz-gelben Regierung mit FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr, startete der Versuch, die Rx-Honorierung erstmals anzupassen. Es wurden 1,04 € (sic!) obenauf gefordert, doch man konnte sich nicht auf eine Datenbasis verständigen, ein Problem, das bis heute andauert. Da helfen auch apothekergenau gerechnete 1,04 € nicht. Quasi als Trostpreis gab es die bekannten 25 Cent. Der Autor erinnert sich noch gut, dass bereits seinerzeit – im Zuge der geplanten Novellierung der Apothekenbetriebsordnung – seitens der Politik Versuche einer Verschlankung des Regeldickichts unternommen wurden. Der Begriff „Light-Apotheken“ flackerte schon damals auf; es ging unter anderem um die Erfordernis eines Labors in Filialbetrieben, neben der Entrümpelung des „Glasmuseums“. Nichts da! Schließlich ging (geht!?) Struktur vor Honorar und Wirtschaftlichkeit. Heraus kamen zusätzliche Vorgaben, wie eine aufwändigere Rezeptur(dokumentation) samt Plausibilitätsprüfung. „Die Apotheke wird ein gutes Stück pharmazeutischer“, so titelten nicht wenige voller Stolz – ohne Blick auf die ökonomischen Konsequenzen. Der allgemeine Bürokratie-Irrsinn nimmt in diesen Jahren ebenfalls Fahrt auf, zudem der Höhenflug der Hochpreiser. Immerhin gelang es, die Beratungspauschale nunmehr auch für Rezepturen abzurechnen, neben einer marginalen Erhöhung der Arbeitspreise.
Derweil erklomm der Versandhandel immer neue Rekordmarken – wenn auch nur im Non-Rx-Bereich. Im Rezeptsegment blieb der Marktanteil auf rund 1 Prozent festgenagelt, trotz aller Bemühungen und (Über-)Dehnungen des Apothekenrechts vor allem durch einen bekannten Player. Heute verliert die durchschnittliche Apotheke 15.000 Packungen jährlich an den Versandhandel, davon weiterhin nur wenige hundert Rx-Packungen, Zukunft dank E-Rezept, Cardlink und Co. offen. Diese Angst vor dem Versand war es, auch hier erinnert sich der Autor gut, warum das Rx-Honorar nicht unbedingt ganz oben auf der Agenda der ABDA stand. Man wollte ja schließlich nicht den Versand stärken, zumal sich ein Rx-Versandhandelsverbot als politisch nicht durchsetzbar erweisen sollte.
Neue Dienstleistungen sollten nun die Zukunft markieren, unter wirtschaftlichen Aspekten indes lückenhaft angegangen – und letztlich auch pharmaökonomisch. Trotz passabler Ansätze wie ARMIN fehlte zu einem evidenzbasierten und studienhinterlegten Gebührenkatalog doch noch ein gutes Stück, selbst wenn es hier ebenfalls mit dem „LEIKA“ schon lange eine respektable Vorlage gab. Aber irgendwie bekam man die Leistung nicht richtig auf die Straße, so wie man eben mit Sommerreifen auf glattem Weg schon bei mäßigen Steigungen hängenbleibt.
Dennoch lief es im großen Bild halbwegs rund. Die „Friedhofsdividende“ gewann an Bedeutung. Die Filialisierung erfolgte nun mit mehr Augenmaß und Vernunft. Starke Apotheken konnten ihre Stellung festigen. Die Branchenumsätze wuchsen Jahr für Jahr um drei, oft vier bis fünf Prozent – plus „Umverteilungs-Zuschlag“ der Wegfallenden. Die Rohertragsentwicklung blieb zwar deutlich darunter, war aber bei Licht betrachtet regelhaft positiv. Zudem war die Inflation noch kein Thema. Die Lohn- und sonstigen Kostenentwicklungen hielten sich im Rahmen und waren zumindest für die besser aufgestellten Betriebe gut zu stemmen. Allerdings bekommt das Thema „Fachkräfte- und Nachwuchsmangel“ immer schärfere Konturen. Doch alles in allem ist die Apothekenwelt bis 2019 ganz in Ordnung, obwohl die strukturellen Verschiebungen (siehe GMG-Folgen oben) weiter fortschreiten.
Abb. 2: Zwischen Historie und Moderne, Zeit so mancher Experimente; generiert mit OpenArt.
Der Corona-Schock
Und dann ist plötzlich alles anders. Wir schreiben 2020 – Corona überkommt den Globus als „Black swan-Ereignis“. Das hatte niemand auf dem Schirm. Zeitweise funktioniert die Welt nur noch in Zeitlupe, wie mit angezogener Handbremse. In Apotheken werden eifrig Desinfektionsmittel – letztlich nur Alkoholverdünnungen – gemischt. Dass es ein solcher Aufwand wurde, ist letztlich ein Kollateralschaden der Überregulierung; die Biozid-Richtlinie ließ hier grüßen. Geld spielte jedoch keine Rolle, ob Masken, eine völlig unsystematische Testerei ins Nichts oder Impfnachweise und manches mehr. Vor die Welle kommen, die Welle halbwegs reiten, durchkommen, den Inzidenzraten ein Schnippchen schlagen ist nun das Gebot der Stunde, ohne freilich den hart-konsequenten Weg asiatischer Länder (vornean China) zu gehen. Durchzuhalten war „Zero Covid“ hier wie da auf Dauer nicht. Am Ende haben es die Milde der Natur (die Virusvarianten büßten an Gefährlichkeit ein) sowie die Impfungen gerichtet. Fazit: Glück gehabt. Glück gepaart mit Mut bei der Ergreifung unternehmerischer Chancen hatten auch etliche Apotheken, mitnichten alle. So mancher machte mit Testzentren das Geschäft seines Lebens, für andere blieben immerhin Trostpreise in Form von Masken, Impfzertifikaten und nunmehr bezuschussten Botendiensten.
Europa plötzlich im Krieg
Von Corona stürzten wir nahtlos in eine bis dato für undenkbar gehaltene Aggression Russlands. Der Überfall auf die Ukraine traf die Wirtschaft ins Mark. Schon Corona hatte reichliche Probleme gemacht, inflationäre Tendenzen sich im Zuge gestörter Lieferketten bereits abgezeichnet. Doch nun geriet alles aus dem Lot. Einige Monate wiesen über 10 Prozent Inflation auf. Die Preise lernten nicht das Laufen, sie sprangen und galoppierten, insbesondere bei lebenswichtigen Gütern wie Lebensmitteln und Energie. Spätestens hier war auch in den Apotheken Schluss mit lustig. Gewissheiten gerieten ins Wanken, die Rechnungen gingen sogar für starke Apotheken immer öfter nicht mehr auf. Es war die Zeit, in der die ABDA einen bemerkenswerten Strategieschwenk hinlegte. Nun war das Rx-Honorar eine zentrale Forderung, neben etlichen anderen Punkten, von Politikern als „Wunschliste an den Weihnachtsmann“ tituliert.
Gleich um 3,65 € auf 12,00 € sollte es nach oben gehen, über 10 Jahre Versäumnisse (andere reden gar von 20 Jahren) sollten nun mit einem Schlag geheilt werden – Preis gut 3,3 Milliarden Euro für alle Kostenträger zusammen. Dummerweise hatte sich zwischenzeitlich die generelle Finanzlage, über viele „Merkel-Jahre“ gut bis glänzend, empfindlich eingetrübt. Auch insoweit kam die Forderung, zumal in ihrer Höhe, zur Unzeit. Trotz Lippenbekenntnissen der Opposition – diese Wünsche wären in keiner denkbaren Regierungskonstellation nur entfernt durchgegangen. Vielleicht wäre ein maßvolle Forderung, gut gestützt auf die tatsächlichen inflationären Verwerfungen mit Basisjahr 2019 (bis dahin war die Apothekenwelt ja einigermaßen im Lot) erfolgreicher gewesen. Der Autor hat dies zusammen mit Kollegen an anderer Stelle bereits dargelegt, u.a. im Positionspapier („Seyfarth-Papier“) zum Apotheken-Reformgesetz im Juni 2024. Dort hatten wir 1,20 € Zuschlag auf das Rx-Packungshonorar als Sofortmaßnahme errechnet. Derweil hatte man Chancen wie die fachlich fundierte Versorgung mit Cannabis zu Genusszwecken (das hätte man wohl noch anders nennen können) einfach an sich vorbeiziehen lassen, ein potenzielles Milliardengeschäft. Aber das ist ein anderes Thema – Apotheker, der Beruf der verpassten Chancen! In der Politik werden solche Verweigerungshaltungen und die Fähigkeit, vor allem Probleme zu sehen und weniger die Lösungen, jedoch durchaus registriert.
Die Abwärtsspirale beginnt zu rotieren
Jetzt haben wir noch mehr Ungemach. So wurden Anfang 2024 zu allem Übel die Rx-Skonti höchstrichterlich gekippt. Murphys Gesetz schlägt zu: Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es auch schief! Für viele Apotheken kommt es nun knüppeldick. Insolvenzen sind kein exotisches Randthema mehr. Immerhin: Das vielgescholtene Apotheken-Reformgesetz (ApoRG) ist zusammen mit der „Ampel“ – manche bezeichnen dieses Regierungskonstrukt aus Partnern, die nie richtig zueinander gefunden haben, ja als die schlechteste Nachkriegsregierung – ebenfalls abgeschaltet. Damit bleibt so manches erspart, wie die „Apotheken ohne (dauerpräsente) Apotheker“ oder die Kürzung des prozentualen Rx-Aufschlags auf 2% (wenn auch zugunsten des Festzuschlags). In der Standesführung dürfte man sich einstweilen freuen, nicht ab 2027 in den Ring der Honorarverhandlungen mit den Krankenkassen steigen zu müssen, ebenfalls ein Baustein der geplatzten Reform. Und die Rx-Skonti? Denen droht womöglich ein dauerhaftes „Lost in Nirwana …“
Somit muss man das standespolitische (Zwischen-)Fazit ziehen: Mit 3,65 € Plus als Forderung gestartet, mit minus größenordnungsmäßig 50 Cent je Rx-Packung gelandet. Da kann man als Verantwortliche(r) in der Standesführung eigentlich nur noch den Hut nehmen. Die großen Krisen der Zeit mögen dies ein wenig kaschieren und in milderem Licht erscheinen lassen.
Abb. 3: In rauer See – Zustand spätestens nach der Corona-Pandemie; generiert mit OpenArt.
Alles besser mit einer neuen Regierung?
Selbst wenn man diese Legislaturperiode, in der man offenkundig keinen tragfähigen Zugang zur Regierung gefunden hatte, nun abschreiben kann: Der Autor kann nur davor warnen, allzu große Hoffnungen auf eine neue Regierung zu setzen. Gerade noch traf „kein Geld ohne Strukturreform“ (Karl Lauterbach) auf die Losung: „Im Zweifel lieber Struktur vor Honorar“. Wird das mit einer neuen Regierung grundlegend anders, an der mit gar nicht so geringer Wahrscheinlichkeit wieder eine SPD beteiligt sein wird, gar wiederum mit Karl Lauterbach im Gesundheitsministerium? Zudem wird ein bekanntermaßen US- und kapitalmarktaffiner Friedrich Merz, dessen Kanzlerschaft als beinahe gesetzt erscheinen muss, für so manch Überraschung sorgen. Insbesondere könnte er seine Rolle als harter Sanierer des Landes entdecken – keine guten Voraussetzungen, Milliardenforderungen wieder aufzuwärmen. Da wird man sich argumentativ warm anziehen und nicht von der Vergangenheit, sondern von Leistungen und Nutzen in der Zukunft reden müssen. Aber kann das unsere Standesführung? Ist der Berufsstand als Ganzes dafür überhaupt bereit? Es stellen sich viele Zukunftsfragen.
Zeitenwende
Damit sind wir beim Punkt. Passt die ABDA noch in die heutige Zeit? Es brodelt. Alternative Zusammenschlüsse formieren sich, etwa die Freie Apothekerschaft oder der Verband innovativer Apotheken. Noch haben sie keinen offiziellen Vertretungsanspruch, kein Verhandlungsmandat gegenüber der Politik. Rechtlich sitzt die Standesführung sicher im Sattel. Doch irgendwann greift die Macht des Faktischen, und dann fragt niemand die Frösche, ob man ihren Teich trockenlegen darf. Dann wird von oben herab reformiert, auf „Sachzwängen“ gegründet. Dieses „Irgendwann“ ist wahrscheinlich näher als gemeinhin angenommen. Die Republik steht vor den umfassendsten Reformen und Umbrüchen der Nachkriegszeit. Wir müssen schon froh sein, in Frieden und ohne allzu große gesellschaftliche Verwerfungen reformieren zu können. Wir stehen vor ernsten Herausforderungen. Da wird geholzt und nicht mit der Nagelschere im Komfortmodus manikürt.
Die Standesführung heutiger Prägung ist denkbar schlecht für solche echten Frakturdiskussionen gewappnet. Und ein Beruf, der ständig erklären muss, warum er überhaupt noch da ist und der seit Jahren um seine Rolle in der Zukunft ringt, hat offenkundig ein ernstes Problem. Der Weg aus diesem Dilemma wird tatsächlich eine Zeitenwende sowie ein Brechen mit so manch Althergebrachtem und auch Liebgewonnenem bedeuten. Prominente Industriezweige machen es vor, ob die einst gefeierte Autoindustrie oder die Energiewirtschaft. Der Markt ist weiterhin da, im Gesundheitswesen ganz besonders, aber er wird anders bespielt. Fragt sich nur, von wem an welchen Stellen.
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
(Albert Einstein)
„Kein Übel ist so schlimm wie die Angst davor.“
(Seneca)
Prof. Dr. Reinhard Herzog
Apotheker
Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.