Eskalation – Scheitern mit Ansage?

Es läuft nicht rund für die Apotheken. Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, wird seitens der ABDA eine „Eskalationsstrategie“ beschworen. Eskalation und Strategie – wie passt das zusammen? Ein Ausflug in Natur und Spieltheorie.

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Auseinandersetzungen um Interessen und Lebensbedürfnisse sind ein elementarer Bestandteil des Lebens. Je höher die Lebensform, umso vielfältiger das Verhaltensinventar. So kann man schon in der Natur einiges mit einer gewissen Ehrfurcht abschauen, handelt es sich doch um in Millionen von Jahren evolutionär erprobte Strategien. So beobachten wir, dass – entgegen menschlicher Vorurteile von „Killer-Maschinen“ – selbst die stärksten Spitzenprädatoren sehr vorsichtig und überlegt vorgehen, unter weitgehender Meidung von ernsthaften Konflikten und Risiken. Geht es aber an die Existenz (oder den Nachwuchs), wird durchaus brachial regiert, man könnte sagen, „all in“ gegangen.

Unterlegene suchen ihr Heil besser in der Flucht und in Verstecken. Dazu haben sich im Verlaufe der Evolution die kuriosesten ökologischen Nischen herausgebildet. Dass David gegen Goliath obsiegt, die Maus also die Katze in die Flucht schlägt, sind seltenste anekdotische Einzelfälle, und dass der Frosch dem Storch die Gurgel zuhält, mag allenfalls Motivations-Cartoons zieren. Manche der Kleineren haben ihre eigenen Abschreckungsprinzipien entwickelt, ob Wespenstachel, Giftzähne, toxische Hautsekrete oder schlicht ein sich größer machen, als man ist. Allen diesen Lebewesen ist gemein, dass sie für sich selbst verantwortlich sind, und das ändert sich selbst in einer Schimpansenhorde nicht durchgreifend, da auch dort das „soziale Netz“ recht grob gestrickt und wirkungsbegrenzt ist. Zudem lebt man im Hier und Jetzt.

Interessenskonflikte in unserer Sozialstruktur angelegt

Das sieht beim Homo sapiens anders aus. Unsere hochentwickelten Sozialstrukturen, unsere außerordentlich hohe Anzahl auf der Erde und unsere einmalig komplexen kommunikativen Fähigkeiten schaffen auch mehr Reibungspunkte und ermöglichen erst mit viel Konfliktpotenzial versehene Dinge wie Politik, Glaube und Ideologien. Nur wir können weit in die Zukunft blicken, damit auch Versprechen, Illusionen und Aberglauben auf den Leim gehen. Doch eines hat sich evolutionär erhalten: Wir denken vor allem an uns selbst und unsere Interessen, in der „Maslowschen Bedürfnispyramide“ feiner abgestuft. Wir verknüpfen und vernetzen unsere Bedürfnisse besser mit anderen – die Geburtsstunde der (Glaubens-)Vereinigungen, Parteien, Lobbygruppen. Dort sitzen wiederum einzelne Leute, mit eigenen Interessen, welche sich gern mal von der Basis entfernen. Das bestimmt jedoch, wie weit man sich für seine Mitglieder einzusetzen bereit ist, oder eher eine eigene Agenda verfolgt. Kluge Organisationen stellen das laufend auf den Prüfstand und tauschen gegebenenfalls die Führung aus. Andere tun dies nicht, und gehen eher zugrunde als sich zu ändern. Das sehen wir gerade in der Parteienlandschaft, und demnächst bei der Standesführung der Apotheken?

Wo stehen wir in der „Nahrungskette“?

Was dort an „Leistung“ erbracht wird, überzeugt kaum jemanden (mehr). Doch tun wir ABDA und Co. vielleicht Unrecht? Schauen wir auf den Anfang des Textes. Welches Tier entspricht der Standesführung und den Apotheken am ehesten? Ein jeder mag sich seine Gedanken machen. Haie, Löwen oder Adler sind wohl eher selten dabei. Allein schon die Frage „Jäger oder Gejagte“ dürfte recht eindeutig zu beantworten sein. Nun mag man die Frage stellen, warum das so ist (eine lange Geschichte …), und ob aus Gejagten in der Evolution von Gesellschaft und Wirtschaft nicht doch Jäger werden könnten (wofür sich einiges bis in die Grundfesten des Berufs ändern müsste). 
Das ist Zukunftsmusik. Bleiben wir im Hier und Jetzt. 

Schon die Beschreibung der Sachlage kann kaum unterschiedlicher sein. Die geplante Apotheken-Reform, nunmehr im Referentenentwurf weiter konkretisiert und bei Licht betrachtet eher ein "Reförmchen" mit einigen allerdings sehr unschönen, gar gefährlichen Giftstacheln, mag man als frontalen Angriff und Missachtung eines ganzen Berufs deuten. Oder aber auch: So dramatisch ist es jetzt nicht, die Auswirkungen halten sich in Grenzen, die „Heiligtümer“ wie Preisbindung, Fremdbesitzverbot und Apothekenpflicht bleiben ja (nur vorerst?) erhalten – „es hätte schlimmer kommen können …“ Diese Beurteilung ist für die weitere Eskalationsstrategie entscheidend. Wir sehen es im Großen: Für eine Weltmacht hat ein lokaler Konflikt weit entfernt von der Heimat eine ganz andere Bedeutung als für die unmittelbar Betroffenen oder die direkten Nachbarn. Wer ist da bereit, „all in“ zu gehen, mit welchen Mitteln, und wer nicht?

Gibt es überhaupt ein einheitliches Interesse?

In unserem Berufsstand differieren die Interessen angesichts der wirtschaftlichen Ungleichheiten ebenfalls erheblich. Zugute kommt die Tatsache, dass die Gewinnerosion bei den allermeisten eingesetzt hat, was insoweit eint. Aber viele haben noch eine Menge Luft unter den Flügeln und manch „Beute“ im Konkurrenzumfeld vor Augen, anderen ist diese Luft längst ausgegangen. Wer ist da bereit, aufs Ganze zu gehen? Und was bedeutet das eigentlich? Wie groß sind maximale Wirkmacht und mögliche Fallhöhe? In der Weltpolitik werden dann aus Verliererstaaten gern mal „failed states“, die ihr Heil darin suchen, kräftig Stunk zu machen, bis hin zu blankem Terror: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“

Biegen die Apotheken gerade auf die Verliererstraße ab, auf dem Weg zu „failed pharmacies“, denen nur noch der Mut und die Unvernunft der Verzweiflung bleiben? Und die ihre Rolle dann darin finden, sich möglichst obstruktiv zu verhalten, indem man seine noch gegebene Macht über die Arzneimittel auskostet und erntet, was und solange es noch geht? Eingeschränkte Öffnungs- bei längeren Lieferzeiten, Warteschlangen, prohibitive Preise, eingeschränkte Dienstleistungen und anderes mehr läge greifbar nah im Werkzeugkasten. Und in den Seitentaschen der Werkzeugkiste steckt die Anleitung zur Selbstaufgabe: Immer mehr anbieten, Arbeit lieber teuer einkaufen, als nur den Anschein der Entbehrlichkeit zu wecken. Jedem bei Verstand ist klar: Verzweiflungsstrategien, da „nichts mehr zu verlieren ist“, können hier wie da kein Zukunftskonzept sein. Viele würden erst dann merken, wie viel sie doch noch zu verlieren haben.

Realistisch betrachtet vom Tisch ist ebenfalls die „Madman Theory“. Sie wurde unter anderem von US-Präsident Nixon eher erfolglos im Vietnamkrieg praktiziert: Durchaus kalkuliert mit dem Schlimmsten zu drohen, seinerzeit gar mit der nuklearen Totalvernichtung. Möglicherweise erleben wir gerade ein Déjà-vu, aus dem Osten ist schon das Grollen zu hören, mit bislang gleichermaßen wenig Effekt. Ungeachtet dessen – welche „Wunderwaffen“ mit durchschlagender Wirkmacht auf die Entscheider könnten die Apotheken überhaupt einsetzen? Die Betriebe schlicht schließen, Streik bis ultimo? Jeder weiß, dass sich das wirtschaftlich sehr rasch erschöpft. Der Gegner muss nur abwarten. Vielleicht wird man sogar überrascht sein, wie wenig dringend vieles für die Kunden doch ist, und wie rasch Alternativen im Versand oder örtlichen Drogeriemarkt für die kleinen Unpässlichkeiten gefunden sind. Perspektivisch könnten dann dispensierende Ärzte, Automaten-Apotheken, Fernberatung und andere solche Dinge drohen. Funktionieren würde das auch, irgendwie. Die weiterhin gern vorgebrachten Kündigungen der Lieferverträge sind nicht nur rechtlich heikel, sondern haben lange Fristen. Und einfach fristlos hinwerfen, beliefern nur noch gegen bar? Das denke man besser vorher bis zum womöglich sehr bitteren Ende durch. Damit liegt das Eskalationspotenzial klar auf Seiten der Politik. 

Sie ahnen es schon: Fremdbesitzverbot, Preisbindung, Apothekenpflicht … Ja, die Apothekenbranche. Ein weitestgehend fremdbestimmter, in der Unmündigkeit gehaltener 70-Milliarden-Euro-Riese ohne Krallen und mit einem Pflanzenfresser-Gebiss oder gar nur dem Schnatter-Schnabel einer Gans, was ironischerweise noch unter „freier Beruf“ firmiert.

Ein ernüchterndes Resümee

Die realistische Einschätzung der eigenen Handlungs- und Wirkungsräume führt zu einem nur wenig Kampfesmut machenden Ergebnis: Sie sind praktisch wie spieltheoretisch sehr begrenzt. Man kann vielleicht nach dem Prinzip „Kragenechse“ versuchen, sich ein wenig größer zu machen, als man ist, und ein wenig Drohpotenzial aufbauen. Man mag zudem Duftmarken durch den einen oder anderen Schließungstag setzen. Das war es dann auch.

Am Ende muss und wird die schlichte Vernunft obsiegen. Was unter solcher Vernunft zu verstehen ist, selbst darüber gehen die Meinungen auseinander. Höchste Zeit, deren Rahmen für das Gesundheitswesen und damit auch den Zukunftsrahmen für die Apotheken von morgen abzustecken. Das wird leider dauern und vieles wird sich in Hintergrundgesprächen abseits der Öffentlichkeit abspielen. Nicht alle werden das noch als Selbstständige erleben. Nur: Die Alternativen sind durchwegs schlechter. Selbst wenn man sich todesmutig zu einer „Madman-Strategie“ und „All-in-Mentalität“ entschließt – der Kopf kommt keinesfalls unbeschädigt durch die Wand, wenn denn überhaupt.

„Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen.“ (Erich Kästner)

„Du kannst ein Schaf mehrmals scheren, aber nur einmal schlachten.“ (unbekannt)

 

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Prof. Dr. Reinhard Herzog

Apotheker

Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.