Deutsches Gesundheitssystem:
Bei einer lahmenden Wirtschaft schmerzen steigende Sozialkosten nochmals mehr. Mit deutlich steigenden Krankenkassenbeiträgen macht sich die Politik nicht beliebt, erst recht nicht in Wahljahren. Es beginnt im (Gesundheits-)Gebälk ernsthaft zu kriseln.
© Reinhard Herzog 2024
(unter Verwendung von Werkbildern © Mercedes Benz, © Volkswagen AG)
Gesundheitsökonomen kennen das Bonmot: „Wir bezahlen einen Mercedes und fahren einen VW Golf.“ Nun ist ein Golf ja kein schlechtes Auto, sollte aber billiger zu haben sein als ein Wagen mit dem Stern. Doch es geht noch grotesker: Die USA zahlen geradezu Ferrari-Preise, je nach Versicherungsstatus entspricht die Gegenleistung bei allzu vielen Bürgern aber nicht mal VW-Niveau. Auch bei uns drohen zumindest S-Klasse-Preise, und der Gegenwert schwindet immer mehr in Richtung eines VW Polo …
Jedenfalls kennen unsere Gesundheitsausgaben in Euro und Cent seit Jahr und Tag nur eine Richtung – nach oben (Abbildung 1). Insoweit ist das bislang tatsächlich eine krisensichere Branche. Mag auch der Wirtschaftsmotor stottern, das Gesundheitswesen wird teurer. Gemessen an der Wirtschaftsleistung ist der langjährige Anstieg etwas schwächer, da es in den vergangenen Jahrzehnten auch mit der Wirtschaft im Grundsatz immer aufwärts ging, vom ein oder anderen Einbruch (Finanzkrise, Corona) mal abgesehen. Die Kostenentwicklung der gesetzlichen Krankenkassen ist sogar nochmals etwas zahmer, insbesondere wieder an der Wirtschaftsleistung gemessen. Einen gewissen Dämpfungseffekt haben also die steten Kostendämpfungs- und Regulierungsbemühungen schon, bei allen Misslichkeiten im Alltag.
Abb. 1: Entwicklung der Gesundheitskosten in Deutschland – insgesamt (rot), nur die gesetzliche Krankenversicherung (grün), absolut in Milliarden Euro (Balken) und anteilig an der Wirtschaftsleistung (Linien)
Nichtsdestotrotz: Gemäß den OECD Health Indicators (siehe https://data-explorer.oecd.org) gaben die USA in 2022 sagenhafte 4,2 Billionen US-$ für „Healthcare“ aus (40 % der globalen Gesundheitskosten!), wir in kaufkraftbereinigten Dollar 0,72 Billionen. Die USA haben jedoch vier Mal so viele Einwohner wie Deutschland. Pro Kopf und Jahr – wieder in kaufkraftparitätischen Dollar – lagen die USA erwartungsgemäß mit 13.000 $ ganz vorn. Wir rangieren zwar mit rund 8.500 $ weit hinter den USA, aber deutlich vor Ländern wie Niederlande (7.300 $), Frankreich (7.000 $) oder Dänemark (6.700 $) – allesamt Nationen, die nicht unbedingt für ein marodes Gesundheitswesen bekannt sind. Verstörend sind Beträge von 500 $ (Indonesien) oder gar nur 300 $ (Indien), was gleichzeitig aber die enormen Wachstumspotenziale der Life-Science-Branche am anderen Ende der Welt markiert. Auch gemessen an der Wirtschaftsleistung gehören wir zu den teuersten in der Welt (Abbildung 2).
Abb. 2: Anteil der Gesundheitsausgaben an der Wirtschaftsleistung im internationalen Vergleich (2022), nach OECD Health Indicators / Health At A Glance 2023
Ein ganzer Strauß von Gründen
Die Ursachenforschung könnte ganze Bücher füllen. Dennoch lassen sich speziell bei uns einige überproportional kostentreibende Kernbereiche ausmachen, denen nicht unbedingt ein adäquater Gegenwert gegenübersteht. Ganz vorne rangiert die Überregulierung und Überbürokratisierung. Die Bürokratie frisst nach schon älteren Untersuchungen rund 25 % auf, und das ist die letzten Jahre nicht weniger geworden. Des Weiteren leisten wir uns eine doppelte Facharztstruktur – wir haben Onkologen, Neurologen, Orthopäden u. a. m. in der Niederlassung und zudem im Krankenhaus. Das machen viele Länder anders. Wir haben eine zu hohe Anzahl an Krankenkassen und erlauben uns zudem eine Spaltung in eine gesetzliche sowie die private Krankenvollversicherung. Das frisst gleichfalls erhebliche Ressourcen und führt zu Fehlallokationen (die Terminvergabe von GKV- versus Privatpatienten ist nur ein Indikator).
Der teuerste, nämlich der stationäre Sektor mit deutlich über 100 Mrd. € ist eine Dauerbaustelle, welche von unserem Gesundheitsminister einstweilen zur Großbaustelle gemacht wird – Ende offen. So leisten wir uns pro Kopf der Bevölkerung mit am meisten Krankenhausbetten weltweit, und bei den Liegezeiten besteht auch einiger Abstand zu den Besten. Wir haben tatsächlich zu viele Kliniken, darunter eine zu große Anzahl solcher, die einen umfassenden Versorgungsauftrag gar nicht erfüllen können, da zu klein. Und bei der Trägerschaft lassen wir etliche „Rosinenpicker“ in privater, stramm gewinnorientierter Hand zu.
Last but not least droht uns die Hochleistungsmedizin über den Kopf zu wachsen. Wir stecken mittendrin in der Fortschrittskostenfalle: oft nur wenige Prozent bessere Therapieergebnisse für ein Vielfaches der Preise, aber eben auch Dinge wie „Krebs als chronische Erkrankung“ zu teils abenteuerlichen Jahrestherapiekosten. Hier läuft die Biotechnologie gerade zu höchster Form auf, mit Zell- und Gentherapien an der Spitze der Innovation zu sechs- bis teils siebenstelligen Beträgen. Für den Einzelnen mag das tatsächlich einen großen Fortschritt bedeuten. Im Vergleich zu den gesamten Lebenszeit-Kosten eines durchschnittlichen Kassenpatienten von rund 350.000 € sind das aber schon schwer zu schluckende Brocken, was nur aufgeht, solange es seltene Therapien bleiben. In Anbetracht der Inzidenzen von Krebs, Alzheimer, diverser Autoimmunerkrankungen und der in Summe gar nicht so seltenen „Orphan Diseases“ wird rasch klar, welche Kostenbomben dort lauern.
Viele Baustellen – keiner traut sich (noch)
Alle diese Baustellen gälte es konsequenterweise zu bearbeiten. Das wäre mehr als ein Großreinemachen, es wäre die Operation am offenen Herzen. Kein Wunder, dass bisher jede Regierung davor zurückgeschreckt ist und es bei Stückwerk belassen hat. Es spricht viel dafür, dass es einstweilen dabei bleiben wird. Die Zeche dieser Verschleppungspolitik zahlen wir alle, aber das ist ja auf anderen Politikfeldern nicht anders. Flickwerk nach Kassenlage, also nichts Neues in der Republik.
„Heute kennt man von allem den Preis, von nichts den Wert.“ (Oscar Wilde, irischer Schriftsteller)
„Den richtigen Zeitpunkt gibt es ebenso wenig wie den richtigen Preis – und beides wird durch die Umstände bestimmt.“ (Lebenserfahrung)
Prof. Dr. Reinhard Herzog
Apotheker
Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.