Zeit ist die rätselhafteste Ressource, über die wir uns an so vielen Stellen, auch in ökonomischer Hinsicht, unsere Gedanken machen. Wir können sie nicht anfassen oder anhalten, und für uns alle hat sie einen finalen Charakter. Ein nicht nur philosophischer Streifzug.
© Reinhard Herzog 2024 (KI-generiert mit Bing Image Creator)
Rund 4,5 Milliarden Jahre existiert unser Planet, das Universum schon knapp 14 Milliarden Jahre. Und davor? Ist die Zeit mit dem Urknall ebenfalls neu geboren worden? Wir werden philosophisch. Solche oder allerlei andere philosophische Gedanken durchhuschen die Welt allenfalls 2 bis 3 Millionen Jahre, als erstmals ein Wesen der Gattung „Homo“ auftauchte – wenn wir mit menscheneigener Überheblichkeit davon ausgehen, dass Hund, Katze, Rabe oder gar die Waldmaus sich keine hochtrabenden Gedanken zu Kant und Hegel, zur Rente oder drohenden (Klima-)Apokalypse der Welt machen. Aber wer weiß schon, was in solchen Köpfen vorgeht, selbst wenn die Zahl der Neuronen nur hunderte Millionen oder wenige Milliarden im Vergleich zu unseren knapp 100 Milliarden beträgt?
Ohne Frage gab es auch bei uns eine intellektuelle Reifung und Entwicklung, wobei man an der Steilheit der Lernkurve angesichts der Situation in der Welt seine Zweifel haben kann. Letztlich wurde aber nicht einmal ein Promille der Erdzeit von Menschen begleitet. Die Menschheitsgeschichte ist ein erdgeschichtlicher Wimpernschlag, erst recht die moderne, als die forcierte Nutzung der Energie in „Wärmekraftmaschinen“ und Elektrizität seit rund 200 Jahren die großen Fortschrittsschübe brachte, die nun ihre Schattenseiten immer mehr offenbaren.
Schwenken wir die Kamera in unser Land: Um 3,4 Milliarden zu erwartende Lebensjahre sind hier auf den Füßen, davon gut 350 Millionen „Rentnerjahre“ (ab Alter 65 gerechnet). Dieser Wert ergibt sich, wenn man die statistischen Restlebensjahre aller Bürger addiert. Corona hätte davon übrigens im Worst case vor der Durchimpfung um die 10 Millionen auslöschen können. Real waren es bis dato wohl zwischen 1 und 2 Millionen verlorene Lebensjahre. Mit einem Medianalter von gut 45 Jahren, zuwanderungsbedingt sogar etwas gesunken, liegt bei 81 Jahren Lebenserwartung im Schnitt bereits das Meiste hinter den hier Lebenden.
In „jungen“ Entwicklungsländern mit Altersmedianen, die 20 und mehr Jahre unter unseren liegen, haben die Menschen das Meiste dagegen vor sich, selbst bei (noch) geringerer Lebenserwartung. Die Zahl der aktiven, erwerbsfähigen Lebensjahre enteilt dort immer mehr unseren, von fortschreitender Überalterung gekennzeichneten Werten. Wir werden das noch an vielen Stellen zu spüren bekommen.
Der einzelne Mensch, bei uns mit erwähnten gut 81 Jahren Lebenserwartung im Schnitt aller gesegnet, Männer nach wie vor knapp 5 Jahre unter den Frauen, kann auf rund 30.000 Lebenstage blicken, 720.000 Stunden, 43 Millionen Minuten und 2,6 Milliarden Sekunden. Das durchschnittliche Herz wird dann gut drei Milliarden Schläge getan haben, bei manch Choleriker deutlich mehr, wenn ein solcher überhaupt die statistische Lebenszeit-Ziellinie erreicht. Fun fact: Auch der kleine Kolibri kann ohne Weiteres auf rund 3 Milliarden Herzschläge kommen – er lebt zwar nur einige Jahre, aber mit einer zehn- bis zwanzigmal höheren Herzschlagfrequenz! Gehen Sie auf das Rentenalter zu, bleiben je nach Geschlecht mit 65 noch statistisch knapp 18 oder 21 Restlebensjahre, und die Sterberate beträgt bereits um 1,5 % bei Männern pro Jahr, bei Frauen etwas unter 1 % – nun Jahr für Jahr stark ansteigend. Die Zahl der verbleibenden Lebensstunden ist statistisch auf unter 200.000 geschrumpft, jene in Gesundheit oft nochmals deutlich weniger. Mit jedem zusätzlichen Lebensjahr wird eine glückliche, beschwerdearme Stunde immer wertvoller, irgendwann sehen die meisten sie nur noch im Rückspiegel der Erinnerung. Vielleicht denken Sie daran, bevor Sie weiterhin Dinge tun, die Sie eigentlich gar nicht mehr nötig hätten!
„Zeit ist das, was man an der Uhr abliest“, wusste schon Albert Einstein pragmatisch zu bemerken. Wir schätzen freilich die Zeit vor allem im Zähler und fürchten sie im Nenner. Im Zähler bedeutet sie einen (vermeintlich) vorhandenen Zeitvorrat, manchmal sogar in Langeweile und Müßiggang ausartend. Mit der Zeit im Nenner verdichtet sich unser Tun zur Leistung, ob die gelaufene Strecke oder die erklommenen Höhenmeter je Zeiteinheit, aber auch die erledigten Aufgaben pro Tag oder die bedienten Kunden in der Stunde. Das schätzen allzu viele Zeitgenossen dann nicht mehr so. Dennoch ist die Zeit im Nenner die Lebensgrundlage für so vieles andere. Das Jonglieren mit der Zeit im Zähler wie im Nenner gehört zu den größten Lebenskünsten, denn für alle ist diese Ressource begrenzt, auch wenn man die Grenze durch präventiv-kluges Handeln oft etwas herausschieben kann. Einige zusätzliche Jahre sind durchaus drin, aber nur, wenn man rechtzeitig anfängt, sich Gedanken zu machen – über die verbleibende Zeit.
„Man sollte nie so viel zu tun haben, dass man zum Nachdenken keine Zeit mehr hat.“ (Georg Christoph Lichtenberg)
„Gewöhnliche Menschen überlegen nur, wie sie ihre Zeit verbringen. Ein intelligenter Mensch versucht, sie auszunutzen.“ (Arthur Schopenhauer)
Prof. Dr. Reinhard Herzog
Apotheker
Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.