Jedes Jahr kämpfen Apothekerverbände dafür, unrechtmäßig einbehaltene Beträge von Krankenkassen zurückzuholen. Allein die Retaxstelle des Apothekerverbands Westfalen-Lippe (AVWL) konnte im vergangenen Jahr mehr als eine halbe Million Euro für ihre Mitglieder zurückgewinnen. Trotz dieser Erfolge bleiben zwei zentrale Fragen: Warum werden überhaupt so viele Retaxationen ausgesprochen? Ließe sich das Problem durch besser formulierte Arzneiversorgungsvereinbarungen grundsätzlich aus der Welt schaffen?
Retaxationen halten Apotheker von ihrer Kernaufgabe ab -
und ließen sich grundsätzlich abstellen!
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Wer redet nicht gerne von einer Win-Win-Konstellation? Weit weniger Beachtung finden die nicht minder verbreiteten „Lose-Lose“-Situationen, bei denen alle Beteiligten verlieren. Retaxationen sind ein Musterbeispiel dafür. Sie entstehen häufig aufgrund von Formfehlern oder vermeintlichen Verstößen gegen Abgaberegeln. Für Apotheken bedeuten sie nicht nur finanzielle Einbußen, sondern auch einen erheblichen Mehraufwand. Wie der Vorstandsvorsitzende des AVWL, Thomas Rochell, betont, treiben solche Verfahren die Verwaltungskosten in die Höhe und belasten die Apothekeninhaber massiv. „Die betroffenen Inhaber verlieren nicht nur Geld, sondern oft auch den Schlaf. Das kann zu gesundheitlichen Risiken führen“, sagt Rochell.
Hinzu kommt, dass die meisten Retaxationen, wie die Statistiken der Apothekerverbände zeigen, unberechtigt sind. Mehr als 90 % der Einsprüche des AVWL führten zu einer vollständigen oder teilweisen Rückerstattung. Oft geht es um kleine Beträge, die einzufordern sich für die Krankenkassen kaum lohnt. Dennoch suchen diese weiter nach Schlupflöchern, um vermeintliche Fehler zu sanktionieren.
Eine bessere Vertragsgestaltung könnte helfen
Die Ursache für viele Retaxationen liegt in den teilweise unklaren oder komplizierten Regelungen der Arzneiversorgungsverträge. Diese werden zwischen den Landesapothekerverbänden und Krankenkassen ausgehandelt und legen fest, wie die Abgabe und Abrechnung von Arzneimitteln zu erfolgen hat. Fehler entstehen häufig durch unterschiedliche Interpretationen dieser Vorgaben oder durch komplizierte bürokratische Details. Wären die Verträge klarer formuliert und praxisnäher gestaltet, könnten viele Konflikte von vornherein vermieden werden. Das würde nicht nur die Retaxstellen entlasten, sondern auch das Verhältnis zwischen Apotheken und Krankenkassen verbessern. „Es ist absurd, dass wir jedes Jahr Millionen Euro in Streitverfahren investieren, die sich durch eine bessere Vertragsgestaltung komplett vermeiden ließen“, kritisiert Rochell.
Ziel: Retaxstellen überflüssig machen
Die Retaxstellen der Landesapothekerverbände leisten wichtige Arbeit. Sie helfen Apotheken, ihre Einsprüche erfolgreich durchzusetzen und bewahren sie vor finanziellen Verlusten. Doch langfristig sollte das Ziel sein, diese Stellen überflüssig zu machen.
Wenn Retaxationen nur noch bei tatsächlichen Verstößen auftreten und nicht mehr durch Interpretationsspielräume oder bürokratische Detailfragen ausgelöst werden, könnten Apotheken ihre Ressourcen wieder vollständig auf ihre Kernaufgaben konzentrieren: die Versorgung der Patienten.
Die Politik hat mit Maßnahmen wie der Regressbremse im Lieferengpassgesetz bereits erste Schritte unternommen, um Apotheken vor ungerechtfertigten Retaxationen zu schützen. Doch das reicht nicht aus, solange Krankenkassen weiter nach Lücken suchen. „Eine gute Vertragsgestaltung ist der Schlüssel“, betont Rochell. Nur so ließen sich die Versichertenbeiträge sinnvoller einsetzen und die Bürokratie abbauen.
Um das Retaxationsproblem nachhaltig zu lösen, müssten alle Beteiligten ihren Beitrag leisten. Die Apothekerverbände müssten in den Vertragsverhandlungen mit den Krankenkassen konsequent auf klare und faire Regeln drängen. Gleichzeitig müssten die Krankenkassen ihre Prüfpraktiken überdenken und den Fokus stärker auf echte Einsparpotenziale legen, statt Apotheken durch überzogene Rückforderungen zu belasten. Die Retaxstellen mögen heute eine unverzichtbare Unterstützung für Apotheken sein, doch sie sollten kein Dauerzustand bleiben. Mit durchdachten Verträgen könnte ein großer Teil der Konflikte vermieden werden – zum Vorteil aller Beteiligten.
Solange es mehr um kleinkarierte Machtspielchen hinter den Kulissen der Selbstverwaltung als um pragmatische Lösungen geht, wird sich nichts ändern. Beispielhaft dafür der anonyme O-Ton eines Apotheken-Funktionärs auf die Frage, warum man beim Prüfkatalog nicht enger mit den Krankenkassen zusammenarbeiten wolle: „Wir lassen uns doch nicht von den Kassen vorschreiben, wie der Vertrag zu lesen ist“!
Michael Dörr, Vorstand ARZsoftware eG, 63263 Neu - Isenburg