Strukturverschiebungen im Arzneimittelmarkt

Risiken erkennen und Chancen nutzen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Nur eines ist sicher – dass nichts sicher ist und es stets Veränderungen gibt. Im Gesundheitswesen hat sich die Taktzahl dieser Veränderungen jedoch merklich erhöht, manchmal offen sichtbar, oftmals auch im Verborgenen. Welche Konsequenzen liegen auf der Hand?

Betrachten wir zuerst die für die Apotheke naheliegendsten Veränderungen: die Packungs- und Absatzstrukturen.

Zweigeteilter Rx-Markt

Der Markt der verschreibungspflichtigen Präparate fällt weiter auseinander. Die Zahl der verordneten Tagesdosen (DDD) hat nach den Daten des Arzneiverordnungs-Reports im Jahr 2007 um 5,5 % auf 31,1 Milliarden kräftig zugenommen. Auch 2008 setzt sich diese Tendenz fort. Der Anstieg ist in erster Linie auf Generika zurückzuführen, deren DDDs 2007 um 16 % zunah­men, während sie bei den pa­tent­geschütz­ten Originalprä­paraten um 13 % nachgaben.

Gleichwohl nehmen die Kosten für das patentgeschützte Segment zu, während die Generika in der Summe im Preis weiter verfallen. Heute kommen auf eine Tagesdosis eines Originalpräparats gut zwei Ge­nerika-Tagesdosen. Die Rx-Packungszahlen insgesamt le­gen dabei um 1 % bis 2 % mäßig zu. Gleichzeitig spielen sich die Rabattverträge vor allem im stückzahlmäßig expandierenden Generika-Segment ab – die Quelle arbeitsintensiver Rezepte sprudelt also weiter. Doch macht bei diesen Präparaten der Apothekenaufschlag oft den größten Teil aus, die Rabattverträge sind insoweit in ihrer Wirkung sehr begrenzt. Für die Apotheken ist diese Strukturverschiebung in der Summe dann wieder positiv, bremst sie doch den Margenverfall und sichert die so wichtigen Stückzahlen, auch wenn der Arbeitsaufwand in keinem Ver­hältnis zu den Einsparun­gen steht. Insoweit hat jede Medaille eben zwei Seiten.

Umgekehrt setzt sich der Trend zu N3-Großpackungen fort – 46,3 % der Verordnungen entfielen 2007 darauf, 2003 wa­ren es erst 38,6 %. Die N1-Packungsgröße rutschte im gleichen Zeitraum von 32,0 % Anteil auf 26,9 % , die N2 von 29,2 % auf 26,4 %. Praktisch heißt dies: Die Zunahme der Packungszahlen wird durch diesen Effekt stärker gedämpft als durch die Entwicklung der Tagesdosen zu erwarten wäre. Großpackungen bedeuten jedoch auch, dass die Kunden tendenziell seltener in die Apotheke kommen, für die Kundenfrequenz eher ein Hemmnis.

OTC in der Krise?

Wirtschaftlich bedenklich ist das sowohl nach Umsatz als auch, noch bedeutsamer, nach Stückzahlen zurückgehende OTC-Geschäft. Lediglich Akutpräparate, speziell der „Evergreen“ Erkältung, halten die Fahnen hoch. Der Preiskampf frisst sich immer weiter durch die Apothekenlandschaft, doch das hilft offensichtlich nicht. Der Verbrauch steigt nicht, ein ambi­valenter Befund:

  • Einerseits lassen sich gesundheitspolitische Befürch­tungen, ein bedenkli­cher Arzneimittelkonsum werde durch Preisaktivitä­ten angekurbelt, momentan jedenfalls nicht klar bestätigen.
  • Andererseits bedeutet das unter dem Strich Rohgewinnrückgänge quer durch die Branche. Die Zahl der echten Gewinner hält sich dabei in Grenzen, die Zahl der Verlierer überwiegt.

Dazu leidet das deutsche OTC-Geschäft unter strukturellen Problemen. Gerade viele für die Apotheke interessante Prä­parate für Dauerverwender (Stammkunden!) sind schlicht zu teuer. Bei Tagestherapiekosten von 1 € und mehr schränkt sich der Käuferkreis empfindlich ein, obwohl Bedarf da wäre. Eine wirklich breitenwirksame Zielgröße liegt eher deutlich unter 50 Cent pro Tag. Diese Misere ist – leider – in erster Linie industriegemacht. Der Löwenanteil der Wertschöpfung liegt hier, während die Apotheken ihre Erträge im Wettbewerb immer weiter schwinden sehen. Mit einer bisweilen undurchsichtigen Rabattpolitik wird das eine oder andere kaschiert, doch sind hohe Rabatte immer ein Indiz, dass ein Markt nicht in Ordnung ist. Aufgrund der komplizierten Zulassungssituation kann sich die Apotheke zudem kaum auf dem globalen Pharmamarkt umsehen, wo es sehr wohl weit attrakti­vere Angebote geben würde.

Die OTC-Krise ist zudem ein weiteres gefährliches Handicap für die Kundenfrequenz. Etwa 60 % der Kunden betreten nämlich eine durchschnittliche Apotheke ohne Rezept, in Lauflagen ist dieser Anteil noch höher. Stete OTC-Packungszahlrückgänge um 2 % oder 3 %, wie in den letzten Jahren üblich, übersetzen sich faktisch in einen schleichen­den Frequenzrückgang. Alles zusammengenommen stehen die Zeichen für die so wichtige Kundenfrequenz unter dem Strich auf Konsolidierung, tendenziell sogar eher auf leichten Rückgang. Der oft zitierte demografische Wandel als Wachstumsquelle vollzieht sich viel zu langsam, als dass er diesen aktuellen Effekten bedeutsam entgegenwirken könnte.

Spezialsegmente wachsen

Ob Impfstoffe, Zytostatika­herstellung oder parenterale Ernährung: Diese Segmente wachsen weiter sehr deutlich, wobei Impfstoffe 2007 einen politisch gewollten Extraschub erhielten. Das sind jedoch allesamt Bereiche, die entweder margenschwach (Impfstoffe) oder aber speziellen Apotheken vorbehalten sind. So machen Spezialrezepturen brutto inzwischen etwa 1,8 Mrd. € aus, also fast 5 % des gesamten Branchenumsatzes. Dies treibt die Durchschnittszahlen nach oben, ohne dass die typische Apotheke davon etwas merkt.

Neue Konkurrenz

Nicht nur der Internethandel hat gerne heruntergespielte Marktanteile erobert, gerade bei höherpreisigen OTC-Präparaten. Andere Konkurren-ten haben zwischenzeitlich am Tisch Platz genommen. So verfügt die Drogeriekette dm über etwa 1.000 Filialen, die im Schnitt etwa 1.000 Kunden am Tag haben – das ergibt überschlägig rund 1 Million Menschen täglich, die bald mit einem „Pharma-Punkt“ konfrontiert werden. Bei Schle­cker dürften es etwa 1,5 bis 2 Millionen Kunden pro Tag sein (in 10.000 Filialen, aber bei weit geringerer Kundenzahl je Filiale). Zusammen erreichen die­se beiden jedoch schon betragsmäßig deutlich mehr als die Hälfte der Kunden, die jeden Tag eine Apotheke aufsuchen (etwa 4 Millionen). Das illustriert zumindest auf lange Sicht die Brisanz des Themas. Der Kampf wird über die „Köpfe“ geführt.

Standortwertigkeiten

Von gleichfalls elementarer Bedeutung sind die Standortwertigkeiten. Die Apotheke muss heute zwei Dinge im Auge behalten:

  • die Veränderungen in der Ärztelandschaft sowie
  • das konsumgesteuerte Ein­kaufsverhalten der Kunden – wo werden welche Einkäufe in welchem zeitlichen Abstand getätigt, wie ist der „Lauf der Leute“?

Die langfristig und strukturell angelegten Veränderungen bei den Ärzten sind durch verschiedene Trends gekennzeichnet:

  • Die Zentralisierung in Form von MVZ, von denen es jetzt schon deutlich über 1.000 gibt, aber auch in Schwerpunktpraxen sowie Ambulatorien von Krankenhäusern nimmt weiter zu. Damit schreitet die Konzen­tration wesentlicher Verordnungsvolumina auf wenige „Hotspots“ fort.
  • Zugleich lösen sich die traditionellen „Vollzeit-an-ei­nem-Ort“-Strukturen auf: Ärzte (Ärztinnen!) arbeiten vermehrt in Teilzeit, in Ver­tragsgemeinschaften bzw.angestellt im MVZ, oder können zwischen Krankenhaus und Praxis pendeln. Zweigpraxen sind seit 2007 ebenfalls möglich. Das führt nicht selten zu schwer be­rechenbaren Konstellationen, weit entfernt von einer „klassischen“ Praxis, welche die Woche über kontinuierlich betrieben wird.
  • Die Budgetierung der Leistungen führt darüber hinaus schon seit etlichen Jahren zu einem „Budget-Hopping“ von Quartal zu Quartal: Ist die Leistungspunktmenge erreicht, wird lieber Urlaub gemacht. Ob sich das im Zuge der Honorarreform 2009 bessern wird, bleibt abzuwarten.

Dies bedeutet, dass sich mittelfristig das Ärzteumfeld der „klassischen Apotheke“ spürbar verändern wird. Fachärzte, heute noch bunt gestreut um die Apotheke, wandern verstärkt in Zentren ab, was für viele Apotheken zu einer schleichend voranschreiten­den Ausdünnung ihres Ver­ordnungsumfeldes führt. Der stabilste Partner bleibt damit der Hausarzt, dessen Bedeutung weiter steigen wird.

Frequenzstandorte im Trubel der Einzelhandelslandschaft

Wo die Leute sind, da wird Geschäft gemacht, ein immer noch gültiger Spruch. Obwohl der Konsum seit Jahren im Wesentlichen stagniert, werden noch fleißig neue Einkaufsmärkte entwickelt. Dabei steht Deutschland im Hinblick auf die Verkaufsfläche pro Kopf bereits an der Spitze in Eu­ro­pa. Eine Zersplitterung des Einkaufsverhaltens bleibt so nicht aus: einerseits das Er­lebniscenter, daneben der Discounter. Innenstädte sind heute mehr Gastronomie- und Flaniermeilen als Einkaufsstätten. Die früheren Prunk­stücke der Großstädte, die Kaufhäuser, leiden extrem.

Andererseits eröffnet z.B. dm noch kräftig immer größere Filialen – mit durchweg deutlich über 500qm. Fachmarktzentren, die solche Märkte bündeln, entstehen an vielen Orten. Für Apotheken ist das eine noch eher ungewohnte Umgebung, gleichwohl im Einzelfall prüfenswert.

Dieses „Rattenrennen“ der Einkaufsstätten vor dem Hintergrund der geringen Wachstumsmöglichkeiten im Einzelhandel ist eine höchst ungesunde Entwicklung. Das Ganze wird kurzlebiger und unberechenbarer und damit ist eine zunehmende Zahl von „Verlierer-Standorten“ vorprogrammiert. Mit anderen Worten: Gerade neue Lauflagen und Center sind heute genauer denn je auf langfristige Zukunftschancen zu prüfen, damit es kein Seifenblasen-Engagement wird. Die wirklich guten, langjährig bewährten Standorte sind hingegen in fester Hand bzw. fast unbezahlbar, die großen Objekte beschränken sich somit auf wenige Ausnahmefälle.

Damit rücken die bezahlbaren, gleichwohl im Einzelfall chancenreichen kleineren Einkaufsmittelpunkte ins Blickfeld. Im Mikroklima der jeweiligen Orte gibt es eben doch den einen Standort, der signifikant besser abschneidet als alle Konkurrenten, und das ist das Entscheidende.

Fazit

Zusammengefasst sehen wir uns drei großen Strömungen ausgesetzt:

  • eine weiter fortschreitende Teilung des Rx-Marktes in billige, nach Packungszah­len dominierende „Basis­the­rapeutika“ (meist Generika) mit einem hohen Anteil der Apothekerhonorierung am Preis sowie in umsatz-, aber nicht stückzahlmäßig stark wachsende Spezialpräpara­te, immer mehr auch „Orphan drugs“;
  • die zunehmende Konzen­tration von Umsätzen, entweder an exzellenten Frequenzstandorten oder aber in Ärztehäusern und grö­ßeren ambulanten Versorgungseinrichtungen, bei gleichzeitiger wirtschaftli­cher Erosion der klassischen Flächenstandorte;
  • die Zeitrechnung verän- dert sich in Richtung Kurzfristigkeit, begleitet von stetem Strukturwandel in der unmittelbaren Umgebung, einer schnelleren Veränderung des Kundenverhaltens sowie des „Laufs der Leute“.

Verglichen mit den Verwerfungen, die wir zurzeit in anderen Branchen erleben, ist die Apotheke aber noch ein Hort der Stabilität. Doch kann sie sich von den Strukturveränderungen nicht mehr abkoppeln. Die Risiken steigen, aber auch etliche Chancen: Hier fängt der frühe und clevere Vogel den Wurm!

Dr. Reinhard Herzog,
Apotheker, 72076 Tübingen,
E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Eine Checkliste zum Thema „Strukturveränderungen – wie gefährdet sind Sie?“ finden Sie als Excel-Tabelle sowie als PDF im Bereich „Checklisten“.

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2009; 34(01):5-5