Spontaneität im Apothekenalltag

Sinn und Grenzen der Großzügigkeit


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Großzügigkeit an der richtigen Stelle ist nicht nur eine Frage der inneren Einstellung, sondern kann sich auch auszahlen. Entscheidend ist aber die angemessene „Dosierung“ zur rechten Zeit am rechten Ort, und jede Art der Großzügigkeit kennt natürlich ihre Grenzen...

Bei Kleinigkeiten entgegenkommend sein, auch spontan mehr geben als nehmen – all dies gehört hierher. Das Gegenteil der Großzügigkeit sind Kleinlichkeit und Pedanterie – Eigenschaften, die sich kaum jemand freiwillig zuschreiben möchte. Spontan befragt, würden sich die meisten Chefs wohl als großzügig oder auch tolerant bezeichnen. Die Realität sieht hingegen anders aus.

Gleichzeitig tauchen Begriffe wie Schlampigkeit, Gleichgültigkeit oder Laisser-faire auf. Auch das kann eine Ausgestaltungsform von Toleranz sein: Es ist mir egal, was der andere tut. Ich gebe dem Kunden nach, weil mir die Auseinandersetzung mit ihm zu aufwendig ist. Ich lasse die Mitarbeiter „wurschteln“, weil mir selbst ein Konzept fehlt und mein Einkommen trotzdem stimmt. Das ist eine falsch verstandene Form von Großzügigkeit. Im Grunde ist es eher eine Form von Ver- und Missachtung. Sie wird keine „Rendite“ abwerfen, Sie können froh sein, wenn ein solches System überhaupt überlebt.

Verschiedene Formen der Großzügigkeit

Nicht immer muss Materielles im Mittelpunkt stehen, wenngleich natürlich die kleineren und größeren Gaben einen Schwerpunkt bilden. Aber auch das Entgegenkommen in Bezug auf Organisation, Zeiteinteilung, Arbeitszeiten oder Pausen gehört dazu, wobei hierfür Vertrauen die entscheidende Voraussetzung ist. Ohne Vertrauen ist ein tole­rantes Entgegenkommen nicht denkbar.

Großzügigkeit zeigt sich übrigens auch darin, dass Sie Ihre eigene Zeit für Kunden oder Mitarbeiter über das übliche Maß hinaus zur Verfügung stellen, sofern es der Anlass gebietet.

Dabei ist es nicht allein die Höhe der Zuwendung, welche die Wirkung ausmacht, sondern der situative Kontext. Der richtige Ton zur richtigen Zeit macht hier die Musik! Sie kennen das von Geschenken: Ein teures Geschenk kann seine Wirkung verfehlen, wenn die Art der Übergabe nicht stimmt. Grund für solche Enttäuschungen sind unterschiedliche Erwartungshorizonte von Schenker und Beschenktem. Enttäuschung bedeutet dabei „das Ende der Täuschung“: Sie haben sich geirrt, was die Wünsche des Gegenübers angeht, gleichzeitig aber selbst eine viel zu hohe Erwartungshaltung aufgebaut.

Damit ist eine wichtige Vor­aussetzung für das „Wirken“ von Großzügigkeit die Kenntnis der Wünsche, Motive und Bedürfnisse des Gegenübers. Hier sind Fingerspitzengefühl und „soziale Intelligenz“ gefragt.

Kunden

Großzügigkeit und Entgegenkommen bei der Kundschaft haben wirtschaftlich sicher die größte Bedeutung. Einige praktische Beispiele:

  • nicht alltägliche Zugaben mit Herz, Witz und Verstand, der Situation angemessen,
  • das spontane Abrunden größerer Beträge,
  • das Kopieren wichtiger Informationen aus Ihrer Handbibliothek oder der Ausdruck relevanter Internet-Infos,
  • beim Erkennen einer Bedürftigkeit das spontane Anbieten einer Dienstleistung wie Zustellung außer der Reihe, Erledigung von Formalitäten, Einholen spezieller Informationen usw.,
  • Kulanz bei Reklamatio­nen: Rücknahme und Gelderstattung ohne langes Hin und Her.

Diese Form des Entgegenkommens ist nicht mit den „Standardleistungen“ des Betriebs zu verwechseln. So haben Sie vielleicht ein Zugabe- und Rabattsystem etabliert oder einen regelmäßigen Botendienst. Diese Dinge werden nach kurzer Zeit nicht mehr als Entgegenkommen gewertet, sondern als Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Die Kunden fordern das regelrecht ein und erkennen gar nicht mehr den freiwilligen Zugabecharakter. Dies ist ein ernstes Problem aller strukturierten Anreizsysteme.

Hier geht es vielmehr um Spontaneität, die kleine Überraschung: Damit können Sie mehr überzeugen als mit gro­ßen Aktionen und Rabatten. Es passt zudem besser zum individuellen Einzelunternehmen: Strukturierte Kun­den­bin­dungs­pro­gram­me werden heute von allen Ketten ange­boten, wobei die ersten bereits in handfeste Krisen rutschen.

Mitarbeiter

Im Apothekenalltag spielt das Verhältnis zu den Mitarbeitern natürlich eine herausragende Rolle. Wenn Sie zudem zu den Kollegen gehören, die den größten Teil der Woche tatsächlich im Betrieb verbringen, dann hängt der Spaß an der Arbeit ganz wesentlich vom täglichen Umgang miteinander ab. Kooperatives Verhalten, Entgegenkommen und Toleranz tragen entscheidend bei zur Arbeitsfreude, aber auch zur so wichtigen Arbeitsproduktivität.

Beispiele für solches tägliches Entgegenkommen sind:

  • spontane materielle Anerkennung in Form von „Tagesprämien“, einem Sach­ge­schenk oder Gutschein, Kaffee und Kuchen außer der Reihe, Essengehen etc.,
  • nicht-materielle Anerkennung: neben ehrlichem Lob die Betreuung mit einer anspruchsvolleren Aufgabe, aber auch Dinge wie „geschenkte Zeit“ (z.B. indem Mitarbeiter an einem schönen Tag mit wenig Arbeit früher gehen können).

Grundsätzlich gilt: Vorsicht vor dauerhaft gewährten Leistungen. Hohe Gehälter, teure Zusatzversicherungen wie betriebliche Altersvorsorge und allerlei Sonderleistungen werden bald als selbstverständlich vereinnahmt, aber kaum noch geschätzt. Die spontane Überraschung hingegen verfehlt ihren Effekt nicht.

Gerade bei Mitarbeitern stellt sich schnell die Frage nach der Gerechtigkeit, wenn Anerkennungen nicht gleichmäßig oder nach nicht nachvollziehbaren Kriterien verteilt werden. Intransparenz, Willkür, Sympathiefaktoren und Launenhaftigkeit bei der Vergabe können schnell zu Verdruss führen und das Gegenteil des Erwünschten bewirken – nämlich Zwist und Zwietracht. Andererseits sind allzu klare Kriterien und Schemata der Tod jeder Spontaneität. Diesen Widerspruch müssen Sie mit Fingerspitzengefühl und einem gesunden Gerechtigkeitsempfinden auflösen. Es muss nicht jeder gleich behandelt werden (da ja auch die Leistungen differieren), nur darf dies eben nicht so geschehen, dass es als Ungerechtigkeit empfunden wird. Sie sollten Ihren Stil offen kommunizieren und darauf hinweisen, dass von dieser Kul­tur der Spontaneität und den an die aktuelle Sachlage angepassten Belohnungen letzt­lich alle profitieren können.

Ärzte

Da Ärzte nach wie vor die bestimmenden Wirtschaftsfaktoren der Apotheke sind, ist ein ungezwungener Umgang mit ihnen besonders wichtig. So können Sie

  • nicht mehr benötigte Arzneimittel, die sowieso bald verfallen bzw. nur noch einen geringen Gutschriftwert haben, Ihren Ärzte anbieten, soweit diese Bedarf haben. Allein die Anfrage („Können Sie dies und das brauchen ...?“) hebt Sie aus der Masse der Kleingeister hervor;
  • ganz Ähnliches gilt für Literatur und sonstiges Infomaterial wie Patientenratgeber usw., die bei Ihnen „herumgammeln“, aber viel­leicht gut in die Praxis passen würden.

Sicher fällt Ihnen im täglichen Geschäft noch mehr ein, wie man sich das Leben leichter machen kann. Dabei gilt: Die kleinen Nettigkeiten sind es, die den Umgang angenehmer und persönlicher gestalten und Ihren Kurs in der Praxis heben.

Organisationen und Vereine

Oft sprechen Vereine, Stiftungen etc. vor und bitten um Unterstützung. „In Kleinigkei­ten großzügig sein, denn kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ – das können Sie an dieser Stelle beherzigen. Nichtsdestotrotz gilt es zu selektieren: Handelt es sich um örtliche Vereine oder landet das Ganze im großen Topf von anonymen Wohlfahrtsorganisationen? Sie sollten dem lokalen Aspekt Ihre besondere Aufmerksamkeit widmen – das gilt vor allem dann, wenn Sie sich zu einem aufwendi­geren Sponsoring entschließen. Bedenken Sie auch, dass die offen zur Schau getragene Unterstützung eines Vereins (oder einer Partei, einer Konfession usw.) möglicherweise andere Interessengruppen vor den Kopf stößt oder zu­mindest Konkurrenzgedanken auslösen kann.

Krankenkassen

Gegenüber den Krankenkassen ist eigentlich weniger von Großzügigkeit zu reden, sondern eher von einer prag­matischen Aufwand-Nutzen-Relation. Berührungspunkte sind heute in erster Linie die Retaxationen, die Sie entweder kommentarlos schlucken oder gegen die Sie sich zur Wehr setzen.

Sie können nun einen dog­ma­tischen Standpunkt einnehmen („Nicht mit mir, was Recht ist, muss Recht bleiben...“), alles Ungerechtfertigte anmahnen oder gar einklagen. Das ist der Garant für viel Ärger und meist eine unbefriedigende Kosten-Nutzen-Relation. Besser ist es daher, für sich selbst grundsätzlich eine „Aktionsschwelle“ (einen fes­ten Betrag) zu definieren, ab der sich für Sie eine Aktivität lohnt. Eine solche Aktionsschwelle bewährt sich auch für das übrige Tagesgeschäft, z.B. bei Fehlbetrag in der Kasse, Verbuchung mit Beleg, expliziter Rechnungserstellung, Mah­nung usw.

Geben und Nehmen

Entgegenkommen und Großzügigkeit sind zwar einerseits eine Art Lebenseinstellung, doch wirklich funktionieren kann dies nur in kooperativer Weise, d.h., wer nimmt, muss auch geben. Das gilt insbe­sondere für Mitarbeiter und wichtige Geschäftspartner.

Wer sich als Mitarbeiter ger­‑ ne einmal eine freie Stunde schenken lässt, aber nicht bereit ist, in Zeiten hoher Arbeitsbelastung etwas dazuzugeben, hat das Prinzip der Toleranz entweder nicht verstanden oder aber verdient es nicht, entgegenkommend behandelt zu werden. Dies sollte durchaus auch so kommuniziert werden. Meist lässt sich die Gruppendynamik nutzen: Das Team baut schon selbst einen entsprechenden sozia­len Druck auf, sodass „Schmarotzer“ mit ihrer Art einfach nicht durchkommen.

Schwieriger wird es bei ei‑ nem Arzt, der zu sehr günstiger Miete in Ihrem Haus sitzt und auch sonst diverse Vorteile genießt, aber sich nicht „revanchiert“. Hier wurde jedoch meist nicht das Prinzip der Großzügigkeit angewandt, sondern eher versucht, etwas „einzukaufen“. So wird das möglicherweise auch der Arzt empfinden.

Das hier beschriebene Prinzip basiert jedoch vor allem auf den kleinen positiven Über­raschungen im täglichen Umgang miteinander und nicht vorderhand auf einem nüchternen Kalkül. Dieses Prinzip der kleinen Nettigkeiten ist daher viel weniger anfällig für Enttäuschungen, vergleichen Sie die obige Analogie zu den großen Geschenken.

Fazit

Die besondere Apotheke zeigt sich auch im täglichen Umgang von einer betont individuellen Seite und erstaunt Kunden und Geschäftspartner immer wieder mit positiven Überraschungen. Dabei zählt nicht so sehr der absolute Betrag, der in die Waagschale geworfen wird, sondern das Nützliche, Situationsangepasste, auch einmal Witzige oder Herzliche.

Mit vergleichsweise wenig Aufwand werden Sie so mehr positive Resonanz erzielen, als Sie es mit aufwendigen, vielfach teureren, aber „sterilen“ Rabatt- und Angebotssystemen je könnten. Ein besseres Betriebsklima und mehr Freude gibt es obenauf. Miesmacher oder Unersättliche sollten Sie dabei nicht aufhalten – lassen Sie sie möglichst links liegen.

Dr. Reinhard Herzog,
Apotheker, 72076 Tübingen,
E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2009; 34(07):7-7