Strategie

Deutschland in (neuen) Zahlen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Deutschland ist scheinbar um 1,5 Mio. Menschen geschrumpft. Die jüngst publizierten Ergebnisse der stichprobengestützten „Volkszählung“, unter dem Begriff „Zensus 2011“ bekannt, haben für einige Überraschungen gesorgt – durchaus auch apothekenrelevante!

Oft einige Tausend Bürger weniger als vermutet

Wurde in der lebendigen Stu­dentenhochburg Tübingen, dem Wohnort des Autors, unlängst noch der 90.000ste Einwohner begrüßt, so sollen es jetzt lediglich etwa 82.500 Bürger sein – beachtliche 7.500 weniger. Man könnte auch sagen: Das ist die satte Existenzgrundlage für eine Apotheke, vielleicht sogar für zwei. Bei einer Studentenstadt mit ihren laufenden Zu- und Fortzügen mögen solche Sprünge aber noch am ehesten nachvollziehbar sein. Doch selbst scheinbar „stabile“ Kleinstädte, die unlängst noch 17.000 oder 18.000 Einwohner „auf die Waage zu bringen“ schienen, sind plötzlich auf 15.000 Bürger „geschrumpft“. Das sind durchaus nennenswerte Größenordnungen.Damit sind wir bei den apothekenrelevanten Fakten. Standortbegutachtungen, ob sich eine Apotheke trägt, sollten diese neuen Erkenntnisse tunlichst miteinbeziehen. Das Marktpoten­zial – im statistischen Bundesdurchschnitt jetzt etwa 525€ bis 530€ Nettoapothekenumsatz je Einwohner mit allerdings deutlichen regionalen Unterschie‑den – fällt im Einzelfall spürbar niedriger aus, was bei so­wieso schon grenzwertigen Standorten den Ausschlag geben kann.

Da die Kommunalfinanzen, wie bereits erwähnt, direkt ein­wohnerabhängig sind, werden einige Gemeinden empfindlichen Einbußen entgegensehen. Prominentes Beispiel ist Berlin, wo jetzt dreistellige Millionen­beträge zur Disposition stehen. Aber auch in kleineren Städten, die im deutlichen Prozentbereich „Federn lassen“ mussten, geht es schnell um große Summen. So könnten einige geplante Bauprojekte ins Wanken kommen und die eine oder andere Apotheke, die schon auf eine vorteilhafte Straßenverlegung oder eine andere frequenzsteigernde Baumaßnahme der öffentlichen Hand spekulieren durfte, muss jetzt möglicherweise umdenken. Manch Stadtkämmerer wird die Gelegenheit nutzen und schlicht Kommunalabgaben und Steuern (Gewerbe- und Grundsteuer) erhöhen. In jedem Fall ist es ratsam, die Augen hinsichtlich der Gemeindefinanzen und der aktuell zur Neubewertung anstehenden Bauplanungen offen zu halten.

Nutzwert der einzelnen Daten

Die Ergebnisse des Zensus lassen sich bis auf die Gemeindeebene hinab unter der Internetadresse https://ergebnisse.zensus2011.de kostenlos abrufen. Doch welchen Nutzwert hat das?

Als erstes sticht natürlich die aktualisierte Einwohnerzahl ins Auge. Gleichen Sie deshalb zunächst einmal die Werte der Zensuswebsite mit den bisherigen Angaben Ihrer Gemeinde ab, die Sie beim Einwohnermeldeamt erhalten oder auf der jeweiligen Homepage finden (in der Regel unter dem Namen, z.B. www.Freiburg.de), wo sie vielfach auch heute noch nicht aktualisiert sind. Schauen Sie, ob nennenswerte Differenzen bestehen. Unterschiede im Bereich von 1% oder 2% sind unerheblich, „fehlen“ aber 5% oder gar 10%, lässt das schon aufhorchen.Passend zu den Einwohnerzahlen finden sich auf der Zensusweb­site die aktuellen demografischen Daten. So können Sie unter dem Reiter „Ergebnisse einfach und schnell“, Unterpunkt „Demografie“, 11 Altersklassen darstellen lassen, nach absoluten Personenzahlen und nach prozentualem Anteil. Anhand der Prozentwerte zeigt sich die unterschiedliche Altersstruktur der Gemeinden besonders anschaulich. Wie groß solche Unterschiede sein können, verdeutlicht der beispielhafte Vergleich der ähnlich großen Städte Tübingen und Gera (82.500 und 96.100 Einwohner) mit der bundesweiten Situation als Referenzwert, siehe Tabelle links unten.

Wie man leicht erkennen kann, weist Gera im Vergleich zum Bundesdurchschnitt und noch mehr in Relation zur „jungen“ Studentenstadt Tübingen eine ganz erheblich ältere Bevölkerung auf – der „demografische Pilz“ mit Überhang bei den Älteren bei gleichzeitig mangelndem Nachwuchs wird hier gut sichtbar. Für die Apotheken hat das sehr konkrete Konsequenzen. Da der Arzneimittelverbrauch ganz erheblich altersabhängig ist (vom Kindesalter bis zum Seniorendasein versieben- bis ver­achtfacht sich das Verordnungsvolumen), hat eine Stadt wie Gera allein schon demografie­bedingt ein erheblich höheres Pro-Kopf-Umsatzpotenzial.

Rechnet man dies einmal konkret durch, beispielsweise anhand der Verbrauchsdaten des jüngsten BARMER GEK Arzneimittelreports 2013, dann ergibt sich für Tübingen ein jährlicher Pro-Kopf-Apothekenumsatz auf Basis der GKV-Arzneimittelverordnungen (ohne Hilfsmittel etc.) von nur etwas über 360€ netto, bei Gera hingegen beinahe 450€, bundesweit sind es um 410€ (Grundlage: Verbrauchsdaten 2012). Die Werte wurden bereits um die Mehrwertsteuer sowie einen pauschalen Abschlag für den Kassenrabatt bereinigt. Entscheidend sind dabei aber in erster Linie die Differenzen – und das sind zwischen einer „jungen“ und einer „alten“ Stadt hier beispielhaft immerhin etwa 85€ bis 90€ pro Kopf und Jahr. Für jemanden, der z.B. 4.000 Einwohner in seinem „Quartier“ versorgt, macht diese Differenz um die 350.000€ Nettoumsatz jährlich aus!

Wer dies anhand der Zensus­daten konkret für seinen Wohnort abschätzen möchte, kann das mit unserem Excel-Rechenblatt zum Download tun (siehe Infokasten am Textende).

Tatsache ist natürlich auch, dass der Ertrag damit nicht eins zu eins korreliert – die deutlich niedrigeren Spannen in den Apotheken der östlichen Bundes­länder zeigen dies (ein weiterer Grund dafür sind allerdings die dort immer noch schwächeren Barverkäufe).

Wohnungen und Gebäude

Weitere nützliche Daten finden sich zur Zahl und Struktur der Wohnungen bzw. Gebäude: Hier bietet die Datenbank recht umfangreiche Werte zum Wohnungsbestand an, einschließlich Analysen beispielsweise zur Wohnungsgröße und Art der Häuser. Wer intensives Marketing betreibt, wird z.B. Aussendungen und Flyer an der Zahl der Haushalte orientieren. Bei nicht allzu hohem Leerstand, der freilich zwischen gut 1% bis 2% in München und über 10% in etlichen ostdeutschen Städten schwanken kann, ist die Zahl der Wohnungen dafür ein ganz guter Indikator; in der Zensusdatenbank kann man diese abfragen. Viele Gemeinden veröffentlichen unabhängig davon auch die Zahl der Haushalte (einzelhandelsrelevant: die Erstwohnsitze), also der bewohnten Wohnungen.

Berufsdaten

Weiterhin findet sich hier eine Reihe von Angaben zur beruflichen Situation und zur Beschäftigtenstruktur:

  • Aufschlussreich ist die Stellung im Beruf. Wie viele sind Angestellte, Beamte, Selbstständige mit oder ohne Beschäftigte bzw. mithelfende Familienangehörige? Ein hoher Beamtenanteil korreliert stark mit der Zahl der Privatrezepte. Wer einen hohen Beamtenanteil an seinem Ort hat, aber kaum Privatrezepte bei sich sieht, sollte sich also seine Gedanken machen. Bundesweit sind 5,0% der Erwerbspersonen Beamte, in einer Industriestadt wie Schweinfurt oder auch Chemnitz sind es fast rekordverdächtig niedrige 2,7% bzw. 2,6%, die akademischen Hochburgen Freiburg, Tübingen oder auch Karlsruhe weisen jeweils gut 7% auf. Das spüren die Apotheken und noch mehr die Ärzte (Privatpatienten!). Dagegen sind beispielsweise Städte wie München ein Eldorado für Selbstständige (über 15%), während Industriestädte wie das erwähnte Schweinfurt nur gut halb so viele Erwerbstätige (rund 8%) zur Selbstständigkeit animieren.
  • Die Wirtschaftszweige (Land­wirtschaft, produzierendes Gewerbe, Dienstleistungen) geben einen Fingerzeig, ob eher ein Industriestandort oder eine Dienstleistungslandschaft gegeben ist. Die Unterschiede sind beträchtlich: Im schon erwähnten Tübingen finden sich gerade einmal 14,5% der Beschäftigten im produzierenden Sektor wieder, bei einer Industriestadt wie Schweinfurt sind es hingegen fast 35%. Die spürbaren Auswirkungen auf die Interessenschwerpunkte der Kundschaft dürften auf der Hand liegen.
  • Die Zahl der Ein- und Auspendler ist gerade bei kleineren und mittleren Gemeinden insoweit wichtig, als sie ein Indika­‑ tor dafür ist, ob Kaufkraft und letztlich potenzielle Kunden per Saldo der Gemeinde zufließen oder ob eine deutliche Auswärtsbewegung zu verzeichnen ist. Ein Überhang an Einpendlern ist für die örtliche Einzelhandelslandschaft meist ein positives Signal, während ein hoher Überschuss an Auspendlern immer befürchten lässt, dass eine ganze Menge Kaufkraft in um­liegende Gemeinden abfließt.
  • Nicht ganz uninteressant ist, welcher Bevölkerungsanteil welchen Berufsabschluss erreicht hat. Hinsichtlich des optimalen Niveaus der Ansprache bei Marketingaktionen oder Schulungen können solche Erkenntnisse dienlich sein – man sollte die Leute schließlich „da abholen, wo sie stehen“. Haben beispielsweise im schon zitierten Tübingen gut 34% einen Hochschulabschluss, sind es im ebenfalls erwähnten Gera 16% und in einer typischen „Industrie- und Arbeiterstadt“ wie dem fränkischen Schweinfurt knapp 11%. Eine Stadt wie Frankfurt am Main bringt es auf 27%, bundesweit sind es 15%. Die Differenzen sind also durchaus erheblich.

Fazit: Die Zensusdatenbank stellt eine willkommene Ergänzung zu den bekannten Gemeindedaten dar, die sich auf den jeweiligen Internetseiten bzw. direkt vor Ort beim Einwohnermeldeamt finden. Manche lieb gewonnenen Fakten müssen jetzt aktualisiert werden. Insbesondere die demografischen Daten (Altersschichtung) geben wertvolle Fingerzeige, ob vor Ort mit einem über- oder unterdurchschnitt­lichen Arzneimittelverbrauch gerechnet werden kann. Durch den Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt wird dies in den gebotenen Tabellen schnell ersichtlich.


Alles in allem ist dieses kostenfrei für jedermann nutzbare Angebot mit einigen Datenexportfunktionen (z.B. in das Excel-Format) ein weiterer Mosaikstein auf dem durchaus mühsamen Weg, die Kundenbedürfnisse vor Ort zu erschließen und Marktpotenziale abzustecken.

Rechentool online

Ein Rechenblatt zur Abschätzung des demografiebedingten Vor-Ort-Verordnungspotenzials finden Sie hier zum Download.

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2013; 38(14):5-5