Kybernetik

Denken in Regelsystemen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Was heute so ist, wird, einem linearen Trend folgend, morgen ähnlich sein. Auf diese schlichte Art versuchen wir, die Zukunft zu meistern. Das Leben lehrt uns jedoch oft etwas anderes – es vollzieht sich in Regelkreisen, mit eigenen Gesetzen, (vermeintliche?) Überraschungen inklusive.

Problemfelder in der Apotheke

Im Betrieb lassen sich solche Phänomene ebenfalls an vielen Stellen beobachten, mit bisweilen nicht minder dramatischen Folgen. Die größten Problemfelder finden sich in den Bereichen Personal, Kundenbeziehungen und Schuldenmanagement.

Ein an und für sich duldsames und brauchbares Team mag eine chaotische oder weitgehend ziel- und planlose Apothekenführung eine ganze Weile ertragen. Doch irgendwann ist eben Schluss. Plötzlich sieht sich der Inhaber mit mehreren Kündigungen oder „legalen Arbeitsverweigerungen“ (das sind oft langfristige Krankschreibungen aus unklaren psychischen oder psychosomatischen Gründen) konfrontiert. Die ganze Apotheke droht zu kippen. Solche Dinge schaukeln sich übrigens gerne in Filialen auf, wenn man eine unfähige, aber mit großen formalen Kompetenzen ausgestattete Filialleitung einfach „werkeln“ lässt und nicht hinter die Kulissen schaut.

Auch mit den Kunden und Verordnern „menschelt“ es, was stets heißt, dass die berühmten Tropfen die Fässer zum Überlaufen bringen können.

Bei überbordenden Schulden erfolgt die Sprungantwort dergestalt, dass ein Gläubiger die Reißleine zieht und in der Folge das ganze Kartenhaus zusammenfällt. Gestern war scheinbar noch alles in Ordnung, heute ist die Insolvenz da.

Vielfach werden solche Sprung­antworten als Überraschungen oder auch Enttäuschungen wahrgenommen. Sie sind es aber nicht, sondern im Sinne der Kybernetik folgerichtige Reaktionen.Viele Entwicklungen im Betrieb gehorchen glücklicherweise eini­germaßen linearen Gesetzen und sind somit ganz gut überschaubar: Zusammenhänge von Kundenzahlen, Umsatz und Gewinn oder etliche Kostenentwicklungen. Bis­weilen wird jedoch der Bereich der Linearität klar verlassen, das bekannteste Beispiel ist der Zinseszinseffekt – er verläuft exponentiell. Ein Betrieb kann ebenfalls von der Last der (Zinses-)Zinsen erschlagen werden.

Weitaus gefährlicher sind Prozesse, die anfangs kaum bemerkt werden, jedoch rasch eine hohe Eigendynamik entfalten, also eben­falls exponentiell anschwellen. Hier ist der Knall, das Anstoßen an Regelgrenzen, unvermeid­lich, aber zeitlich und in seiner Dynamik sehr schwer abschätzbar. Das macht das Ganze so gefährlich, zumal wenn es nicht um harte monetäre oder technische Fakten geht, sondern um Emotionen, Stimmungen oder Vertrauen, allesamt Dinge, die schwer fassbar sind. Dann steckt ganz schnell „der Wurm“ im Betrieb. Doch wie gehen Sie damit um?

Schritt 1: Relevante Sprung­antworten identifizieren

An welchen wichtigen Stellen im Betrieb müssen Sie mit nicht-linearem Verhalten und Sprung­antworten rechnen? Solche scheinbar plötzlichen Brüche nehmen nicht selten empfindliche, bisweilen existentielle Dimensionen an, so beispielsweise:

  • Viele Ihrer guten Kunden verweigern Ihnen auf einmal die Treue und betreten Ihr Geschäft nicht mehr oder nur noch sehr selten.
  • Mitarbeiter kündigen innerlich bzw. tatsächlich oder „feiern krank“.
  • Ihre besten Verordner beenden die bislang enge Zusammenarbeit oder lassen die ehemals gute Kooperation sang- und klanglos „versanden“.
  • Ihre Bank kündigt die Kredite und stellt sie fällig.
  • Lieferanten beliefern Sie nicht mehr bzw. bestehen auf Vorkasse.
  • Ihr Vermieter setzt Sie vor die Tür.
  • Ihr EDV-System steht mangels Wartung und Modernisierung vor dem totalen Zusammen-bruch.
  • Der Investitionsstau an Haus und Betrieb hat solche Dimensionen angenommen, dass jederzeit ein einschneidendes Ereignis (Wasserrohrbruch, Elektroschäden etc.) Ihre Apotheke erheblich schädigen kann.

Zur klugen Betriebsführung gehört es, solche potenziell betriebsschädlichen Risiken und „Critical Points“ zu identifizieren. Das Aufspüren von möglichen Sprungantworten an erfolgskritischen Punkten passt also bestens in eine Risikoan­a­lyse, die ihrerseits Bestandteil eines Quali­täts­managementsys­tems sein kann. Stufen Sie die potenziellen Auswirkungen solcher Reaktionen dann noch einmal ab: existenzbedrohend, erheblich betriebsschädlich, minder problematisch.

Somit sind also zuerst die Dinge aufzuspüren, die sich derart „sprunghaft“ verhalten, dass es im Ergebnis um „hop oder top“ geht, schwarz oder weiß, fast ohne Kompromisse. Daraufhin ist die Schwere der möglichen Konsequenzen zu prüfen.

Vernünftigerweise machen Sie sich im Vorhinein Gedanken, wie Sie ggf. mit solchen Ereignissen umgehen bzw. es idealerweise – vor allem bei Punkten mit existenziellem „Totalzerstörungspotenzial“ – erst gar nicht so weit kommen lassen.

Alle diese Dinge haben jedoch fast immer eine mehr oder weniger lange Vorgeschichte, kommen also nicht schicksalhaft über Nacht. Und genau das führt zum zweiten Schritt.

Schritt 2: Sensorium entwickeln

Das Entwickeln einer feinen Sensorik, verbunden mit der Fähigkeit zur Diagnose und Erkennung von tatsächlich betriebsrelevanten (und nicht nur messbaren) Abweichungen, ist der zweite Schritt. Sie müssen einfach stets wissen, was läuft. Damit ist nicht nur ein aussagekräftiges Set an betriebswirtschaftlichen Kennzahlen ge­meint, sondern es kommen zahlreiche „weiche“ Faktoren dazu: Betriebsklima, Stimmung einzelner Mitarbeiter, Kundenzufriedenheit, Wahrnehmung des Betriebs in der Öffentlichkeit sowie bei den erfolgsrelevanten Schlüsselpersonen wie Verordnern und etliches mehr.

Besonders tückisch ist, dass gerade diese gern vernachlässigten „weichen“ Faktoren sehr anfällig für die gefährlichen Sprungantworten sind: Den Mitarbeitern oder dem Hauptverordner „reicht es jetzt“, Kunden wenden sich plötzlich ab – siehe oben. Daher gilt es, die Antennen aufzustellen. Manch einer ist hier ein Naturtalent, er hört das sprichwörtliche Gras wachsen, spürt jede Veränderung um sich herum, auch und gerade im emotionalen Bereich. Andere bekommen eher wenig mit, sind insoweit unsensibler und umso mehr auf ein wirkungsvolles Instrumentarium angewiesen:

  • Mitarbeiter: Stimmungstests, Stimmungskarten, „Kum­mer­box“, Umfragen, regelmäßige „Sprech­stunde“ auch für Außerbetrieb­liches.
  • Kundenebene: Umfragen, eta­bliertes „Customer Relation Management“ (CRM), Erkennen von Kundenproblemen, richtige Einordnung von und Umgang mit Reklamationen.
  • Enge „Tuchfühlung“ mit Schlüsselpersonen wie Ärzten einschließlich deren für den Betriebsalltag oft sehr bedeutsamen Mitarbeitern.
  • Selbstkritik: Entwickeln Sie eine Sensibilität, wie weit Sie gehen können, wann genug wirklich genug ist, an welchen Stellen Sie Menschen überfordern oder vor den Kopf stoßen.

Wer sich hier schwertut, kann sich zudem gezielt an seine Vertrauensleute in der Apotheke als „Stimmungsbarometer“ und „Antennen“ halten. Pflegen Sie also zumindest zu denjenigen, die bestens im Betrieb, mit den Kunden und der Ärzteschaft vernetzt sind, engen Kontakt!

An diese Stelle gehört auch das Instrument der regel- und gewissenhaften Selbstinspektion, und dies nicht nur aus Sicht des Pharmazierats und der Apothekenbetriebsordnung. Dinge wie der technische Zustand des Inventars, Gebäudes und unmittelbaren Betriebsumfelds gehören beispielsweise ebenso dazu, um Überraschungen zu vermeiden.

Den Betrieb „regeln“, nicht „steuern“!

Aus kybernetischer Sicht wird ein Betrieb nicht gesteuert, sondern unter Nutzung eines feinen Sensoriums und einer steten Rückkopplung geregelt, auch wenn das merkwürdig klingen mag.

Die hohe Kunst besteht nun darin, die richtige Regelantwort, sprich die richtige Reaktion auf Abweichungen zu finden, wobei man mehrere Verhaltensmuster unterscheiden kann:

  • Ein kontinuierliches und empfindliches Erfassen der Situation und der Soll-Ist-Abweichungen versetzt Sie in die Lage, stets auch fein gegenzusteuern und die Abweichungen und Ausschläge gar nicht zu groß werden zu lassen. Das ist die Politik der vielen kleinen Schrittchen. Unser politisches System und unser Gesundheitssystem funktionieren auf diese Weise: Es wird stets an vielen kleinen Stellschräubchen gedreht, grundlegende oder gar „revolutionäre“ Reformen bleiben hingegen aus.
  • Sie lassen es eher laufen und reagieren erst bei starken Abweichungen, dann aber hart und konsequent. Solch ein Reaktionsverhalten ist typisch für Kriseninterventionen, aber auch für die „Wölfe im Schafspelz“: Ruhige, friedfertige Chefs, die „fünf gerade sein lassen“, nicht so genau hinschauen, die aber, wenn es tatsächlich darauf ankommt, schnell, hart und zielgerichtet mit klaren Vorstellungen durchgreifen. Das sorgt nicht selten für Überraschungen – hätte man das doch dem stets so lieben und freundlichen Chef nicht zugetraut.
  • Die kritischen Fälle sind die, bei denen eine regelrechte Schmerz- und Empfindungslosigkeit vorliegt, die also aus verschiedensten Gründen gar nicht registrieren (bzw. nicht verarbeiten), was um sie herum geschieht. Sie wachen erst bei einem großen Knall auf – schlimmstenfalls ist das der letzte. Der Betrieb ist dann nicht oder nur noch unter größten Schwierigkeiten und Entbehrungen zu retten.

Ähnlich wie bei einer Auto- oder Busfahrt verläuft somit die Fahrt durch den Berufsalltag eher weich und gediegen (und verleitet möglicherweise zum Einschlummern...) oder aber etwas ruckartig und eckig (was aber der Aufmerksamkeit zugutekommt).

Bereits gut etablierte Apotheken dürften eher der ersten Variante zugeneigt sein. Wer in der Aufbau- und Expansionsphase ist, eine „fast forward“-Strategie verfolgt, wird etwas zackiger und ruppiger agieren müssen. Vermeiden sollten Sie den „dritten Weg“, denn schlimmstenfalls irrt die Fuhre dann viel zu lange ziellos umher, bis sie irgendwann – allerdings ziemlich unsanft – an Grenzen stößt.

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2014; 39(05):4-4