Prof. Dr. Reinhard Herzog
Die Differenz zwischen Theorie und Praxis ist bekanntlich gewaltig. Das gilt erst recht, wenn es sich um eine Thematik handelt, die mit der eigentlichen Profession (Pharmazie!) und der einst einmal studierten Stofffülle rein gar nichts zu tun hat – nämlich eine Kombination aus Betriebswirtschaft, Unternehmensführung, Marktanalyse, Marketing und noch manchem mehr, oder einfach auf den Punkt gebracht: Erfolgreiche Unternehmensführung!
Heute lässt sich vieles wissenschaftlich oder statistisch analysieren und aufarbeiten, dennoch sind es immer eine ganze Reihe verschiedener Faktoren, die schlussendlich vorteilhaft oder auch einmal in destruktiver Weise zusammenspielen und damit den (Miss-)Erfolg des Unternehmens begründen.
„Kollege Glück“ oft an Bord!
Zudem entfaltet immer der Faktor Zufall und Glück seine teils überragende Wirkungsmacht: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Leuten „durch’s Bild der Zeitgeschichte gelaufen“, oder eben auch nicht und im Schatten geblieben.
Vermeintliche Kleinigkeiten können gigantische Ausmaße annehmen (ein „paar Codezeilen einer Motorsteuerungssoftware“ bringen womöglich einen Milliardenkonzern ins Wanken...), während selbst größte Eseleien unbeachtlich bleiben oder gar noch zum Vorteil gereichen (siehe so manch Fauxpas in Politik und Show-Business...).
All dies kann man nicht im herkömmlichen Sinne in Form von stringenten Regeln, Formeln und Ablaufdiagrammen lernen. Diese sind an etlichen Stellen lediglich Hilfswerkzeuge. Im Grunde geht es darum, Erfahrungswissen aufzusaugen, ohne diese teils teuren und bitteren Erfahrungen selbst gemacht haben zu müssen.
Das setzt allerdings bei Ihnen selbst ein hohes Maß an Reflektionsvermögen, Empathie und Fähigkeiten voraus, sich in andere Situationen und Personen hineindenken zu können – mit der Konsequenz, daraus bei sich Verhaltensänderungen anzustoßen.
Fallstudien sind harte Arbeit!
Sie können sich natürlich in die Kinosessel-Perspektive begeben und auf den jeweiligen Fall schauen, ihn vielleicht sogar neugierig konsumieren wie einen Freitagabend-Krimi, um dann selbstgerecht zu sagen: „Mann, war der dämlich...“ oder „Dem geschieht es gerade recht“ bzw. auch „Na ja, mit den Voraussetzungen hätte ich das auch locker geschafft, da hätte man ja einen Schimpansen hinstellen können!“. Das mag für unterhaltsamen Medienkonsum sorgen, nur: Ändern wird sich dadurch für Sie gar nichts. Der wirkliche Lerneffekt geht gegen Null.
Die Arbeit mit und an Fallstudien ist ziemlich harte Arbeit, auch viel Basisarbeit: Daten aufarbeiten, Konstellationen analysieren, Zusammenhänge verstehen, die Erfolgsprinzipien herausarbeiten, mögliche Alternativen erörtern. Wer sich darauf einlässt, hat jedoch tatsächlich die Chance, einen jahrelangen Unternehmensprozess oder auch einen komplexeren Projektablauf im Zeitraffer zu beobachten und zu verstehen. Damit kann er sich viel eigenes Lehrgeld ersparen und seine Kräfte lieber in eine aussichtsreichere Richtung lenken.
Grenzen erkennen
Gleichwohl gibt es natürlich Grenzen. Kein Fall ist wie der andere. Mit anderen Personen wäre manch Unternehmensstory bei ansonsten gleichen Randbedingungen ganz anders abgelaufen (wobei es hier dann eine Herausforderung ist, die – in diesem Fall persönlichen bzw. psychologischen – Gründe aufzudecken). Trotzdem: Möglichst komprimiertes Erfahrungslernen ist eine der effektivsten Formen praxistauglicher Wissens- und Fähigkeitsvermittlung. Alternativ können oder müssen Sie sogar vieles davon teuer in Form von externem Beraterwissen einkaufen.
Arten
Nicht jede Fallstudie muss gleich zu einer ganzen Lebensgeschichte oder gar -beichte ausarten. Fallstudien kommen durchaus auch konkret projektbezogen vor, beispielsweise:
- Spezialisierung auf eine attraktive Nischengruppe von Hochpreis-Patienten,
- Aufbau eines Speziallabors,
- Etablierung einer Heimversorgung,
- Marketingkonzept zur Erschließung eines Wohngebietes,
- neue Wege der Personalrekrutierung,
- Entwicklung eines neues Online-Auftritts.
Hier reichen oftmals bereits die speziellen projektbezogenen Angaben, und es muss dann nicht die gesamte Apotheke in all ihren Tiefen beleuchtet werden.
Dann gibt es die mehr oder weniger ausführlichen Schilderungen einer (Miss-)Erfolgsstory und damit verbunden oft ganze Apothekengeschichten, wie:
- Übernahme einer heruntergewirtschafteten Filiale,
- Neugründung in einem großen Einkaufscenter,
- Niedergang eines ehemaligen Marktführers,
- Sanierung einer Apotheke kurz vor der Insolvenz,
- Entwicklung zum Marktführer trotz etablierter Konkurrenz und Standortnachteilen.
Um diese Fälle richtig beurteilen zu können, brauchen Sie vor allem die relevanten Randbedingungen zu Marktpotenzial, Konkurrenzsituation, Ärzteversorgung und sonstiger Vor-Ort-Lage, aber oftmals eben auch entscheidende apothekeninterne Informationen: Unternehmerpersönlichkeit, Führungskultur, Personalstruktur, Konfliktpotenziale, „Psychogramm“ der Apotheke.
Nicht zuletzt können spannende Fälle durchaus auf dem Papier zu Lehrzwecken konstruiert werden, was jedoch viel Erfahrungswissen voraussetzt, damit diese Konstellationen plausibel sind und am Ende „aufgehen“.
Unterschiedliche Erkenntniswerte und -tiefen
Was können Sie nun mit den Fällen anfangen, bzw. wie können diese Fälle im Hinblick auf ihren Erkenntniswert hin konstruiert sein? Hier gibt es einige Varianten, Überschneidungen sind natürlich fast beliebig möglich.
Häufig sollten Sie schlicht erst einmal anhand des Falles Probleme und ggf. deren Lösung aufspüren: Wo hakt es überhaupt? Was ist das Kernproblem, was sind Nebensächlichkeiten? Oder anders ausgedrückt: Ursachenforschung für die gegebene Situation!
Andererseits kann es auch darum gehen, im jeweiligen Fall ganz konkret getroffene Entscheidungen nachzuvollziehen und zu hinterfragen: War es richtig, die Praxis XY anzusiedeln, und warum bzw. warum eben gerade hier nicht?
Eine weitere Intention kann die Erstellung einer Gesamtbeurteilung der Lage sein: War die Filialübernahme kaufmännisch bzw. strategisch ein Erfolg? Anhand welcher Kennzahlen machen Sie das fest?
Und schlussendlich geht es auch manchmal „nur“ darum, die gegebenen Informationen zu analysieren. Daran schließen sich dann Fragen an, ob aufgrund der gegebenen Daten überhaupt eine Entscheidung möglich ist bzw. welche Risiken aufgrund ungenügender Datenlage drohen. Welche Informationen werden noch unbedingt für eine Entscheidungsfindung benötigt? Beispiel: Detailliert vom Rechenzentrum aufgeschlüsselte Verordnungsumsätze sind gut und schön, aber wie alt sind die relevanten Ärzte und wie sieht deren Lebensperspektive aus? Und wie ermittelt man das praktisch? „Data-Mining“ und das Gewinnen standortrelevanter Informationen über die allgemeinen 08/15-Statistiken hinaus ist eine hohe Kunst und Gold wert!
Eigene Fallstudien kreieren
Da „Case Studies“ im Apothekenumfeld nicht so häufig sind (aus diesem Grunde werden wir Ihnen jedoch künftig immer wieder einige Fälle präsentieren), bleibt für die Apothekerkollegen noch die ja durchaus beliebte Variante des „Do-it-yourself“. Das funktioniert durchaus!
Sie brauchen dazu Beobachtungsgabe, Disziplin, Ausdauer und stets offene „Mauseohren“ und den „Adlerblick“. Zum einen gibt der Bekanntenkreis viel „Lehrmaterial“ her – aber nur, wenn man auch nachhakt und möglichst die ganze Geschichte einschließlich der wesentlichen Randbedingungen erfährt. Bei interessanten Fällen lohnt eine eigene, im Zeitalter des Internets oft schnell zu erledigende Recherche (wie viele Einwohner, welche Ärzte, Lage der Apotheke, Umfeld...).
Viel interessanter sind Ihre Konkurrenten. Gemäß der Indianerweisheit: „Du kannst einen anderen erst beurteilen, wenn Du in seinen Schuhen gelaufen bist!“, geht es hier darum, zumindest „geistig in den Schuhen des anderen zu wandeln“. Machen Sie also einmal eine umgekehrte Standort- und Situationsanalyse, so, als könnten Sie die Konkurrenzapotheke morgen kaufen. Versuchen Sie, Inneneinsichten zu gewinnen: Welche Persönlichkeit ist Ihr Konkurrent? Wie sieht seine Belegschaft aus – vielleicht gerade aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur, und was lässt sich daraus für die Führungskultur und an Stärken und Schwächen ableiten? Wie gut behauptet sich die Apotheke im Kundenwettbewerb und warum? Auf diese Weise haben Sie Ihre vielleicht interessanteste und wertvollste Fallstudie!
Fallstudien als Werkzeug bei der Personalauswahl
Kleinere Fallstudien können auch als wichtiger Baustein bei der Auswahl insbesondere von Führungspersonen in der Apotheke dienen. Während das Lösen einer „Case Study“ in Consultingfirmen und in etlichen Assessment-Centern der Großkonzerne zum guten Ton gehört, ist die problemlösungsorientierte Personalauswahl in Apotheken eher noch wenig verbreitet, nicht zuletzt, weil sich die Bewerberzahlen oft in Grenzen halten. Dennoch gilt: Lieber erst einmal gar niemanden einstellen (oder zur Not auf Zeitarbeitsfirmen, Personaltausch mit befreundeten Apotheken etc. zurückgreifen), als die falsche Person engpassbedingt dauerhaft nehmen.
Dabei bietet es sich an, sich einige kleinere, einfachere oder auch größere „Fälle“ aus der Praxis zurechtzulegen und die Kandidaten damit zu konfrontieren. Das beginnt mit schlichten Kundenfällen: Folgendes ist vorgefallen, kurze Situationsschilderung, wie hätten Sie den Fall gelöst? Etwas komplexere Fragestellungen sind z.B. solche: Unser Umsatz mit Naturheilmitteln und Phytopharmaka dümpelt vor sich hin.Schauen Sie sich gern in der Apotheke um: Welche Gründe und praktikablen Lösungsansätze sehen Sie daraufhin?
Bei einem Filialleiter-Kandidaten in der engsten Wahl kann das dann so weit gehen, dass man ihm einige relevante Umfelddaten nennt (Einwohner, Ärzte etc., keine Angst, das könnte jeder Konkurrent auch „googeln“) und nach seiner Einschätzung des Potenzials fragt sowie nach Wegen, dies zu heben. Gipfeln könnte dies darin, dass der Bewerber gebeten wird, sich ein paar Gedanken zu machen und diese kurz gefasst auf einer Seite einige Tage später einzureichen, quasi als eine Art „Arbeitsprobe“ strategischen Denkens. Ein solcher Aufwand kommt typischerweise nur für herausgehobene Funktionen infrage.
Rollenspiele
Fallstudien können Sie durchaus praktisch weiterspinnen und dramaturgisch zu Rollenspielen aufladen. Idealerweise suchen Sie sich dazu einen Konterpart z.B. aus dem befreundeten Kollegenkreis, gerne einen frecheren oder mutigeren, oder auch mal gezielt einen Branchenfremden.
Spielen Sie dann einzelne Szenarien durch, wie beispielsweise Angreifer und Verteidiger: Sie nehmen die Rolle des Übernehmers einer Filiale mit anschließender Modernisierung und neuem Marketing ein, Ihr Gegenüber spielt die Rolle des alteingesessenen Kollegen am Ort.
Ähnliche Rollenspiele eignen sich für die typischen Käufer-/Verkäufer-Gespräche und allgemein alles, was auf eine Wettbewerbssituation (X gegen Y) hinausläuft – wie das bei vielen Spielen ja ebenfalls der Fall ist.
Ein Rollentausch vermag dem Spiel oft eine ganz andere Wendung zu geben und ist daher immer eine Empfehlung wert. Rollenspiele wachsen und fallen jedoch mit den beteiligten Partnern. Sie können ein äußerst wertvolles Hilfsmittel sein, aber auch schnell langweilig werden oder erst gar nicht richtig in Gang kommen.
Die lebendige Interaktion hat jedoch im Vergleich zum Studium im stillen Kämmerlein immer noch den höchsten Erkenntniswert – und Spaßfaktor obenauf!
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2015; 40(20):4-4