Flüchtlingskrise

Sonderkonjunktur für Apotheken?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Um die Situation für die Apotheken beurteilen zu können, lohnt zuerst ein Blick auf die demografische Situation der Neuankömmlinge. Eine Auswertung der Asylbewerber(innen) in Baden-Württemberg im ersten Halbjahr 2015 (22.000 Personen) zeigt folgende Merkmale, die andernorts vergleichbar sind:

  • 73% männlich, 27% weiblich. Auf eine Frau kommen somit 2,7 Männer.
  • Durchschnittsalter: 23 Jahre (m: 23,8 Jahre, w: 21,8 Jahre). Zum Vergleich landesweiter Altersdurchschnitt: 43,2 Jahre!
  • Weitaus stärkste Altersklasse: 18 bis 35 Jahre, ein Viertel war minderjährig. Deutlich unter 1% waren älter als 65 und nur wenige Prozent über 45.

Nach der Erstaufnahme mit teils schwieriger Versorgungslage werden die Flüchtlinge schließlich einzelnen Gemeinden zugewiesen. Prinzipiell kommt dann die Gemeinde für die (Gesundheits-)Kosten auf, und erhält dafür Mittel aus dem Landes- und Bundeshaushalt. Flüchtlinge und GKV-Versicherte sind erst einmal nicht gleichgestellt (vgl. §4 und §6 Asylbewerberleistungsgesetz AsylbLG). §72 Abs.2 SGBV verweist die Honorierung der Ärzte für die Flüchtlingsbehandlung faktisch in den GKV-Bereich.

Mit Erhalt einer Versichertenkarte erhalten die Flüchtlinge dann doch unbürokratisch Zugang zur GKV-Versorgung. Dies wird in Bremen oder Hamburg bereits praktiziert, in Nordrhein-Westfalen ab Anfang 2016. Die Ausgabe der Versichertenkarte soll künftig den Bundesländern überlassen bleiben. Die Gemeinde meldet dann die Flüchtlinge bei genau einer Krankenkasse für alle an. Damit sind diese Menschen im Grunde ganz normale GKV-Patienten – ein sehr entscheidender Schritt. Nach heutigem Stand werden primär weiterhin die Gemeinden als Kostenträger (Rechnungen dann quartalsweise von der GKV ausgestellt) fungieren. Die GKV soll (vorerst?) nicht zusätzlich belastet werden.

Bezogen auf die Gesamtbevölkerung reicht der Flüchtlingsanteil lokal von weit unter 1% bis an 10%, in Extremfällen auch mehr. Das markiert gleichzeitig die Grenzen der „Zusatzkonjunktur“. Der tatsächliche Bedarf dieser überwiegend jungen Menschen ist schwer abschätzbar. Altersbedingt erwartbar ist ein weit niedrigerer Pro-Kopf-Verordnungsumsatz als der statistische Durchschnitt von etwa 425 € (=alle GKV-Verordnungen an Arzneimitteln und Nicht-Arzneimitteln ohne Speziallaborleistungen). Allerdings dürften sich manch Hochkostenfälle darunter befinden. Je Prozentpunkt an Flüchtlingen vor Ort sollte ein Umsatzplus von vielleicht 0,3% bis 0,5% zu erwarten sein, in den Himmel wachsen die Bäume also nicht.

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2015; 40(20):7-7