Prof. Dr. Reinhard Herzog
Werfen wir zuerst einen Blick darauf, was im Feuer steht. Von den etwa 11,5 Mrd. € Rohertrag aller deutschen Apotheken (ohne Rezepturen aller Art, insbesondere Spezialrezepturen) werden gut 6 Mrd. € mit Rx-Arzneimitteln innerhalb der GKV und etwas über 1,2 Mrd. € im Bereich der Rx-Privatverordnungen erzielt. Hierin sind bereits die Einkaufsrabatte der Apotheken enthalten. Somit werden insgesamt um 65 % des Rohertrages von Rx-Arzneimitteln eingespielt.
Die Abbildung unten verdeutlicht diese prozentuale Aufteilung. Die „Durchschnittsapotheke“, Spezialumsätze aus dem „Gesamtkuchen“ herausgerechnet, erzielt 2016 hochgerechnet in etwa 365.000 € Rohertrag mit Rx (von 575.000 € insgesamt), die sich auf etwa 37.000 Rx-Packungen (davon 31.000 zulasten der GKV) aufteilen.
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Anhand dieser Relationen und Packungszahlen ergibt sich bereits, dass die Rx-Preise die empfindlichste Stelle der Apotheken darstellen. Jeder Euro durchgängiger Nachlass (mit Mehrwertsteuer dann 1,19 € brutto „Bonus“ für Kunden bzw. Krankenkassen) bedeutet stramme 37.000 € Euro Rohertragsverlust und Gewinneinbuße, da sich ja an den Kosten nichts ändert. Prozentual dürfte das typischerweise auf Gewinnverluste von 20 % bis 25 % herauslaufen – für im Grunde lächerliche 1,20 € Kundenbonus je Packung.
Kompensationsmöglichkeiten?
Kompensieren ließe sich das „marktwirtschaftlich“ durch ein Anheben der OTC-Preise um einen ähnlichen Betrag, da sich die Packungszahlen von OTC-Arzneimitteln und Freiwahlartikeln in ähnlicher Größenordnung bewegen – mit allerdings erheblichen standortabhängigen Unterschieden. Lauflagenapotheken hätten einen größeren Hebel als Land- und Peripherieapotheken. Es wäre paradox: Versucht man heute, durch Sonderangebote Rezepte anzulocken, würde dieses Konzept kippen, in Einzelfällen gar ins Gegenteil verkehrt.
Höchst fraglich ist, inwieweit derartige Preiserhöhungen überhaupt durchgängig am Markt zu realisieren wären, zumal gerade hier der Versand seine großen Schatten wirft (OTC-Marktanteil 12 % gegenüber etwa 1 % im Rx-Bereich). Also alles in allem eine höchst brenzlige Situation.
Man kann deshalb auch beratertypisch kaltschnäuzig rechnen:
2 € Bonus je Rx-Packung (die „Messlatte“ etlicher Versender = 1,68 € netto) bedeuten bundesweit einen Ertragsverlust von 1.240 Mio. €. Das wären rund 35.000 PTA-, 40.000 PKA- oder 20.000 Apotheker-Stellen. Egal, wie der Mix aussähe: Eine hoch fünfstellige Zahl an potenziellen Arbeitsplatzverlusten!
Alternativ verzichten wir einfach mal rechnerisch auf den Gewinn. Dann verzichtet der Finanzminister mit: 32 % Einkommensteuer (der eher niedrige Satz berücksichtigt bereits die Anrechnung der Gewerbesteuer) sind etwa 400 Mio. € und 14 % Gewerbesteuer (bei 400 % Hebesatz) machen grob überschlagen 175 Mio. €. In nicht wenigen kleinen, „deindustrialisierten“ Gemeinden ist die Apotheke übrigens einer der größten Gewerbesteuerzahler! Möglicherweise helfen solche Argumente mehr als das Thema Versorgungssicherheit. Andererseits reden wir über im Gesamtkontext eher niedrige Summen, der Finanzminister wird es verkraften. Das Arbeitsplatzargument sollte eher ziehen.
Garantieren Rx-Festpreise die Versorgung?
Dummerweise hat der Europäische Gerichtshof eine Stelle angesprochen, über die man nicht so einfach hinweggehen kann:
Sind feste Preise ein Garant für eine flächendeckende Versorgungssicherheit, ist ihre Steuerungswirkung hinreichend? Bis 2004 – dem Inkrafttreten des „GKV-Modernisierungsgesetzes“ (GMG) mit OTC-Preisfreigabe, Versandhandel, Filialen, gekappten Großhandelsmargen u.a.m. – hätte der Autor dem noch uneingeschränkt zugestimmt.
Nachdem ein lange bewährtes, durchaus starres, aber konsequent reguliertes System „teilliberalisiert“ und kräftig durchgeschüttelt wurde, sind die Verhältnisse nicht mehr so eindeutig, haben sich immer mehr Gräben innerhalb des Berufsstandes aufgetan. Wie viele einzelne Berufsverbände haben wir inzwischen, bis hin zum Verband der Versandapotheken? Die „Bruchlinien“ sind immer evidenter geworden:
- Stadt-Land-Gefälle und Demografie: Viele Landgemeinden verlieren Einwohner, Metropolen gewinnen. Eine Umkehrung dieses Trends ist vorerst nicht zu erwarten, wenngleich langfristig nicht ausgeschlossen, falls die Lebenshaltungskosten in den Metropolen weiter explodieren. Die ärztliche Versorgung steht absehbar vor allem auf dem Land unter Druck, und es gilt nun einmal: ohne Arzt keine Rezepte.
Traditionell werden auf dem Land weitaus niedrigere Umsätze pro Kopf der Bevölkerung realisiert (oft nur 350 € bis 450 €) als in der Stadt (teils über 700 €). Niedrigere Kosten – vor allem günstige Raumkosten und kürzere Öffnungszeiten – kompensieren das nur zum Teil. Topografisch bedingt, sind viele Umsatzpotenziale einfach auf den „typischen“ Bereich gedeckelt, egal, was die Inhaber alles anstellen mögen. Als weitere Belastung ist die schon immer sehr angespannte Personalsituation zu sehen, mit klarer Tendenz zur Verschärfung.
- Bürokratie- und Verwaltungsaufwand: Hier sind kleinere Apotheken teils existenziell getroffen. Manche geben deshalb sogar auf – es wächst ihnen über den Kopf, macht schlicht keinen Spaß mehr. Große Betriebe, erst recht gut laufende Filialkonstruktionen, können hier ihren Größenvorteil ausspielen.
- Das Verteilungsproblem „groß“ gegen „klein“: Tatsächlich sind die heutigen Honorare für starke, gut geführte Apotheken auskömmlich. Es wird schon noch sehr gut verdient in der Branche, allerdings von immer weniger „Privilegierten“. Für die mittleren und erst recht kleineren Betriebe sind die Vergütungen knapp, bei ehrlicher Berechnung der Inhaber-Stundenlöhne oft inakzeptabel.
Genau hier liegt das Problem: Erhöht man im heutigen Festpreissystem das Honorar pauschal für alle, profitiert die Apotheke mit 75.000 Rx-Packungen (die heute schon gut verdient) enorm, doch diejenige mit 20.000 Rx-Packungen erhält nur etwas Luft unter die Flügel. Der Abstand zu den Starken vergrößert sich sogar weiter – mit allen Konsequenzen hinsichtlich des Ausbaus der Marktmacht durch Marketing, künftig ggf. Kundenrabatte oder Aufkauf von Filialen (und damit auch Beschneidung der Chancen für den Nachwuchs).
Survival of the Fittest?
„Liberalisierungen“ ermöglichen gerade den Stärksten, andere vollends an die Wand zu spielen. Umgekehrt würde eine erhebliche Honorarkürzung (das wäre ja eine Bonus-Gewährung) bei der heutigen Sachlage sehr schnell einen Fallbeileffekt am Markt auslösen, gerne auch Bereinigung genannt.
Insoweit wäre die Rx-Preisfreigabe (noch schärfer: ein Höchstpreismodell) eine Art sozialdarwinistisches Experiment. Einige bleiben übrig und gewinnen (was am Ende?), Kunden werden sich über vergleichsweise kleine Entlastungen freuen (oder die Krankenkassen, noch gefährlicher), allerdings um den Preis vieler Einzelschicksale. Oder zugespitzt an den Kunden gerichtet: Wenn Sie 10 € sparen könnten, wäre Ihnen das den Ruin von etlichen Tausend Existenzen wert?
Kluge Konzepte sind gefragt, nicht nur Verbote
Unsere Zukunftskonzepte sollten nicht allein auf ein Rx-Versandverbot setzen, dessen Durchsetzbarkeit aus heutiger Sicht nicht einmal sicher ist. Gefragt ist eine neue Honorarsystematik, welche die persönlichen Leistungen ganz anders gewichtet und selbstverwaltete Umverteilungsmechanismen („kassenapothekerliche Vereinigung“?) vorsieht.
Vor allem müssen aber unsere Kunden mitziehen. Ihnen ist unser Mehrwert noch viel deutlicher zu machen, und sie dürfen nicht den Eindruck bekommen, dass ihnen lediglich ein besitzstandswahrendes Zwangssystem übergestülpt wird. Die zahlreichen Kommentare aus der Bevölkerung in den öffentlichen Foren nach dem EuGH-Urteil sollten ernsthaft nachdenklich machen. Leider neigen wir dazu, da selbst zu vielem gezwungen, auch auf andere Druck ausüben zu wollen. Eine Großbaustelle! Doch Sie können bereits anfangen: Denken Sie Ihre künftigen Aktionen immer von der Seite Ihrer Kunden aus! Was bieten Sie ihnen für echte Vorteile? Wie machen Sie das verständlich und übersetzen das in die Lebensrealität der Menschen?
Gewinner und Verlierer
Könnten Sie überhaupt das „Rattenrennen“ bei einer Freigabe der Rx-Preise gewinnen? Dummerweise hätten wir einen „Vielfrontenkrieg“:
- Die Kunden wollen Nachlässe, die ihnen in unserem Versicherungssystem eigentlich gar nicht zustehen,
- die Krankenkassen könnten als Big Player den Markt aufmischen,
- die „bösen Versandapotheken“ drohen mit ihren (vermeintlich) günstigeren Kosten,
- und bald wäre das elektronische Rezept der ultimative Game-Changer auf dem Weg in die digitale (Versand-)Welt.
Im Grunde ähnelt die Situation Käfighühnern, denen man statt fester Rationen künftig freistellt, sich ihr Futter „auf dem Markt“ von den Kunden zu erbetteln. Gleichzeitig bleiben sie aber eingesperrt, denn Dinge wie die persönliche Haftung, Anwesenheits- und Gemeinwohlpflichten („Eier legen“) und die vielen Auflagen aller Art bestehen ja weiter.
Achillesferse Versandkosten
Selbst wenn wir den Teufel an die Wand malen – auch er lebt nicht von Luft und Liebe. Alle wollen Gewinn machen, müssen jedoch mindestens ihre Kosten einspielen, sonst sind sie bald weg von der Bühne. Deshalb richten wir den Blick wieder auf die wirtschaftliche Realität. Wenn Sie gefragt würden, was Sie vorziehen:
- Ein Rezept wie heute persönlich zu beliefern,
- Rezepte mit hohem Marketingaufwand und um den Preis von Nachlässen einzuwerben, anonym entgegenzunehmen und die Produkte dann husch- husch einzupacken und zu verschicken,
dann würden die meisten instinktiv und richtigerweise sagen: Mein heutiges Modell trägt weiter (trotz Angst vor dem Versand)! Tatsächlich bewegen sich die operativen Kosten je Päckchen im Versand ab etwa 7 €, dazu kommen Allgemein- und Raumkosten, teils exorbitante Werbekosten sowie der gewünschte Gewinn. Allein die Versandkosten (meist wird ja versandkostenfrei geliefert) mit Pack-/Werbematerial und Freiumschlag liegen bei über 3 €. Das entspricht etwa 5 Approbierten- und 8 PTA-Minuten am HV-Tisch! Die echten Kostenvorteile des Versands (niedrigere Raum- und Personalkosten je Auftrag) relativieren sich rasch angesichts vieler Kosten an anderen Stellen. Häufig genannte Nachteile stationärer Apotheken wie Labor oder Notdienst (tatsächlich durch Honorare zumindest teilfinanziert) fallen hingegen je Kunde bzw. Auftrag mit einigen zehn Cent weit weniger ins Gewicht als vielfach gedacht.
Mit anderen Worten: Die Bäume wachsen im Versand nicht in den Himmel, die Spielräume gegenüber der Offizinapotheke sind überraschend begrenzt. Nur große Stückzahlen halten das Geschäft am Laufen, daher auch der geradezu irre Kampf. Und trotzdem gilt oft das Bonmot: Am einzelnen Päckchen machen wir Verlust, die Masse bringt den Gewinn! Kluge Versender haben sich deshalb auf Randsegmente wie Kosmetik, Geräte, Medizinprodukte, Alternativmedizin etc. fokussiert. Natürlich: In diesem Szenario ist und bleibt ein Rezept mit Roherträgen von 12 € bis 15 €, nach Boni vielleicht 8 € bis 10 €, ein schönes „Add on“ ...
Nur der Versandhandel an sich sollte selbst im „Worst Case“ (Preisfreigabe) wenn auch mit verkraftbaren Blessuren beherrschbar sein (vgl. OTC). Steigen jedoch die Krankenkassen mit ihrer Nachfragemacht ein oder spielen Kollegen vor Ort verrückt, dürfte es richtig ungemütlich werden. Den „Gewinnern“ winkt dann zwar viel Umsatz, aber wenig Rendite.
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2016; 41(22):4-4