Marktprognose

Existenzkiller Versandhandel!?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Angst, Enttäuschung und Wut machen sich in den Apotheken breit: Wie einfach wäre es gewesen, sich den Rx-Versand einfach per Verbot vom Leib zu schaffen! Das ist erst einmal vertagt. Betrachten wir deshalb einmal einige präzise durchgerechnete Modellszenarien.

Nichts ist so unsicher wie die Zukunft. Panikmache führt nicht weiter, eine Negierung oder Verniedlichung der Tatsachen auch nicht. Handlungskonsequenzen sollten gut begründet sein – nicht leicht in einer Zeit von „Fake News“, Halbwahrheiten, der Überhöhung von Einzelereignissen und Veränderungsscheu.

Basierend auf den Ist-Marktdaten wurden mitttels eines detailgenauen Simulationsmodells drei Szenarien berechnet: Marktstagnation A, ein mäßiges (wahrscheinliches) Wachstumsszenario B und ein forciertes C, siehe Tabelle. Während der Non-Rx-Versandmarkt aufgrund jahrelanger Historie einigermaßen prognostizierbar erscheint, betreten wir im Rx-Segment mit einem womöglich persistierenden und zudem ggf. ungleichen Preiswettbewerb Neuland. Die gewählten Marktanteilsgewinne des Versands lassen sich sachlich begründen (siehe später) und sind insoweit plausibel. Dennoch wären andere Verläufe denkbar. Somit reden wir über beispielhafte Auswirkungen eines möglichen, partiell eher pessimistischen Verlaufs.

Die Ergebnisse

Die Resultate werden bewusst auf die Roherträge reduziert – nur diese zählen – und auf die einzelne Apotheke umgerechnet. Dabei wird ein Rückgang der Apothekenzahlen um weiterhin 200 pro Jahr unterstellt. Honorare, Aufschläge und Rabatte sollen auf heutigem Niveau verharren.

Nehmen wir an, der Versand schreitet im Non-Rx-Segment wie bisher voran (Sättigung bei 20 % bis 25 %, Verordnungsmarkt die Hälfte), er erobert das Rx-Hochpreissegment (sagenhafte 60 % Anteil ab 2021, Begründung weiter unten) und weitet seinen Marktanteil im Nicht-Hochpreissegment um 1 %-Punkt pro Jahr überschaubar auf 12 % in zehn Jahren aus: Die Apotheken wären je nach Marktszenario A bis C empfindlich getroffen (Abb. 1).

Ein völliger Einbruch der Erträge ist zwar nicht zu erwarten, ihre Entwicklung würde aber teils weit hinter die Inflation (Annahme 2 %, gestrichelte Vergleichslinien) zurückgeworfen. Ohne jeden Versand wären die Apotheken auf der Gewinnerstraße, siehe Abb. 2. Die Differenzen zwischen den grünen (überhaupt kein Versand, „Wunschtraum“) und roten Linien (mit Rx-/Non-Rx-Versand) wachsen sich im Laufe der zehn Jahre auf Beträge bis etwa 175.000 € Rohertrag je Apotheke pro Jahr aus, bei dann noch angenommen 17.800 Betrieben. Ein Rx-Versandverbot halbiert das etwa. Schon heute kostet das Päckchenschieben inklusive aller Aktivitäten in den schwer erfassbaren Randsegmenten jede Apotheke wohl um 40.000 € Ertrag im Jahr!

1,1 bis 1,5 Mrd. € Ertrag würden am Ende (2027) aus dem Rx- Segment umverteilt, 1,5 bis 1,8 Mrd. € im Non-Rx-Segment zu heutigen Offizin-Spannen. Wie viel davon jeweils die Versandkunden bzw. Krankenkassen einstreichen dürften, hängt von den Rabatten der Versender ab – geschätzt könnte es bis auf je etwa die Hälfte hinauslaufen.

Wichtige Erkenntnisse

  • Solange der Markt wächst, dient das eine Weile als wirksamer Puffer. Der Versand kappt vor allem dieses Wachstum, eines der wichtigsten Ergebnisse: Es ist nur ein kontinuierliches Marktwachstum, welches die Marktanteilsgewinne des Versandes kaschieren würde. Setzen wir den heutigen Markt = 100 und lassen diesen um 3 % pro Jahr wachsen, dann wird sein Wert nach zehn Jahren bei 134,4 liegen. Hätte der Versand anfangs einen Marktanteil von 1 %, dann beispielhaft von 20 % (= Verzwanzigfachung!), bedeutete das für die Offizinapotheken immer noch einen Anstieg von 99 auf 107,5. Wehe aber, falls dieses Wachstum ausbleibt oder sich verlangsamt! Die Wachstumsrate der Rx-Packungszahlen erweist sich dabei als die wichtigste Größe.
  • Der Rückgang der Apothekenzahlen dämpft weiterhin zumindest statistisch die negativen Entwicklungen („Friedhofsdividende“).
  • Werden gewisse Schwellen bei den Versand-Marktanteilen erreicht, frisst sich diese Konkurrenz „ins Fleisch“. Dann bleiben nur weitere Schließungen bzw. das Drehen an den Kostenschrauben. Diese „Points of no Return“ könnten schnell erreicht sein. Erst wenn der Versand dann an Sättigungsgrenzen stößt, entspannt sich die Lage wieder.
  • Eher robust erweist sich das Non-Rx-Geschäft trotz Versand-Wachstumsraten von 8 % bis 10 % bzw. Marktanteilsgewinnen von gut einem Prozentpunkt pro Jahr – solange der Markt auch hier zumindest mäßig wächst. Die Chancen in der Offizin: kluge Preispolitik (Preise nur selektiv senken, sonst tendenziell eher mit Augenmaß und kontinuierlich in kleinen Schritten erhöhen) sowie ein wertigeres Sortiment. Eine Versand-Sättigungsgrenze von etwa 20 % bis 25 % zumindest bei den OTC-Arzneimitteln und vielen Medical- und Körperpflegeprodukten sollte absehbar sein. Zu hoch ist der Anteil akut benötigter, zudem nicht allzu teurer Präparate, für welche eine Versandbestellung schlicht nicht lohnt. Ähnliches gilt für günstige Nicht-Arzneimittel. Bei teuren Kosmetika, Produkten wie Teststäbchen oder auch medizinischen Geräten könnten dagegen höhere Versandanteile möglich sein.
  • Schon allein von der Umsatz- und Ertragsbedeutung her bleibt das Rx-Segment die Achillesferse, zumal die Apotheken hier völlig fremdbestimmt sind. Theoretisch sind so fast beliebig hohe Versandanteile denkbar.
  • Praktisch legt z.B. der gefürchtete „DocMorris“ trotz 85 € Durchschnitts-Bestellwert und 18,4 % Rohgewinnmarge selbst auf Ebene EBITDA noch rund 40 Cent pro Päckchen drauf. Weitere Daten nach Firmenangaben: 42 € „Barkorb“ ohne Rezepte, 128 € bei Rezepten, 969.000 Rezept-, 490.000 Bar-/OTC-Kunden, 4,4 Mio. Sendungen, 375 Mio. € Umsatz im Jahr 2016. Eine Shop-Apotheke AG schießt bei rund 45 € durchschnittlichem Korbumsatz – fast nur OTC – und 20,5 % Marge fast 3 € je Sendung zu. Absehbar geplant sind 2 % bis 3 % positive EBITDA-Marge, rund 1 € je Bestellung.
  • Sollte der Rx-Versand Bestand haben, könnte die Trennlinie ganz anders aussehen – nämlich zwischen „Brot-und-Butter-Geschäft“ vor Ort inklusive der vielen billigen Generikapackungen auf der einen und der Spezialversorgung auf der anderen Seite.

Das Hochpreiser-Geschäft macht heute 20 % bis teils deutlich über 30 % des Rx-Umsatzes aus, spielt aber in der Regel nur etwa 4 % bis 6 % des Rx-Ertrages ein, bei im Grunde nicht adäquat honoriertem hohem Risiko. Versender mögen solche kleinen Päckchen mit hohen Stückerträgen, während sie sich mit Paketen voll mit niedrigpreisigen Artikeln schwertun.

Kostenträger könnten hier am ehesten Ersparnisse herausschlagen, denn ein von z.B. 200 € auf 100 € rabattierter Stückertrag ist für den Versand immer noch lukrativ. Deshalb wurde hier ein Szenario durchgerechnet, was in wenigen Jahren zuerst einmal erschreckende 60 % Marktanteil des Versandes bei den „Hochpreisern“ unterstellt. Ein Seitenblick in die USA lohnt (siehe Kasten). Angesichts der niedrigen Ertragsbedeutung wäre dieser auf den ersten Blick enorme „Aderlass“ für die Offizinen überschaubar, sofern es dabei bliebe und eben nicht das sonstige Rx-Geschäft ebenfalls abwandern würde.

Die größte Gefahr lauert übrigens nicht darin, mit fernen Versendern konkurrieren zu müssen, sondern den Konkurrenzkampf untereinander via Boni und Co. loszutreten. Der Versand ist dann nur der Katalysator einer „kreativen Zerstörung“, womöglich durch die Krankenkassen (Kundenlenkung und Selektivverträge?) kräftig beflügelt.

Würde man wenigstens das Festhonorar um gerade mal 0,10 € je Rx-Packung jedes Jahrerhöhen, könnte das zumindest im mittleren Wachstumsszenario B die Apothekenroherträge auch real nach Kostensteigerungen stabilisieren (siehe Abb. 1, blaue Kurve). Mit rund 75 Mio. € zusätzlich jedes Jahr (0,2 % der Arzneimittelkosten) bliebe die Kostenbelastung für die GKV überschaubar, zumal sie vornehmlich im Hochpreissegment via Versand wieder Ersparnisse erzielen könnte. Es gäbe also notfalls mit etwas gutem Willen leicht finanzierbare alternative Wege zum Rx-Versandverbot, die dann der tatsächlichen Marktentwicklung angepasst werden müssten.

Fazit

Ohne Frage wäre ein schlichtes Rx-Versandverbot für die Vor-Ort-Apotheken die einfachste, „entspannte“ Lösung. Doch darf man den Blick vor den Realitäten nicht verschließen. Eine enorme Herausforderung ist der Versand bereits heute (OTC-Markt!) und wird es künftig wohl noch erheblich mehr werden. Egal, wie er „gezügelt“ wird (wie lange und nachhaltig?): „Wenn der Wind der Veränderung durchs Land weht, bauen die einen Mauern und die anderen errichten Windmühlen“ – ein chinesisches Sprichwort.

Wir sollten rasch sehen, neue und innovative „Windmühlen“ für unseren Berufsstand zu bauen – sozusagen die „Energiewende der Pharmazeuten“ anstoßen. Dafür sprechen übrigens auf längere Sicht uns noch weit stärker tangierende therapeutische Revolutionen und die immer weiter vordringende „künstliche Intelligenz“ der Computer. Da verschieben sich Milliardenmärkte.

Apotheker Dr. Reinhard Herzog, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2017; 42(14):4-4