Drohendes Bürokratiemonster Datenschutz

Sargnagel unserer Zukunftsfähigkeit?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Umfassende moderne Informationstechnologien mitsamt den damit verbundenen „Datenkraken“ sind ein Politikum geworden wie früher die Gen- oder Atomtechnik. Bedenken und Risikoscheuheit dominieren. Das Risiko, technologisch abgehängt zu werden, wird dabei gerne ausgeblendet. Doch generell erweisen sich ja groteske Regularien und Paragrafen als willige Helfer, wenn man etwas schon nicht ganz verbieten kann. Wie gut das funktioniert, zeigt das Bauwesen: Fledermäuse, Juchtenkäfer und sonstige Kleinlebewesen sowie das Dauerthema Brandschutz fungieren als zuverlässige „Showstopper“. In der IT ist es dagegen jetzt womöglich ein überzogener Datenschutz.

Die langfristigen Folgen dürften hier aber weit dramatischer sein. Zugegeben: Die „Datenkraken“ aus Übersee machen es nicht leicht, für einen lockeren Umgang mit Daten zu plädieren. Wobei sich die Frage anschließt: Warum sind diese marktbeherrschenden Unternehmen fast alle in den USA und inzwischen China entstanden, nicht aber in der EU?

Wir Heilberufler sollten eine differenzierte und naturwissenschaftlich fundierte Sicht auf diese Dinge entwickeln. Schließlich werden gerade in unserem Bereich enorme Fortschritte aus IT und „Big Data“ resultieren. Die Frage ist nur, ob das bei uns stattfindet oder wieder im außereuropäischen Ausland. Hier von einer „existenziellen Frage“ zu sprechen, dürfte nicht übertrieben sein, denn die Digitalisierung greift in so viele Lebensbereiche ein wie keine Technologie zuvor.

Manch einer mag stolz sein, die Gentechnik erfolgreich behindert und so die ehemalige „Apotheke der Welt“ zu einem pharmazeutischen Krämerladen abgewirtschaftet oder unsere ehemals führende Nuklearindustrie ins Abseits befördert zu haben. Gemessen an der Umwälzungskraft der Informationstechnologien sind das alles Petitessen. So haben Staatsführer – ob in USA, China und selbst Russland – bereits auf pathetische Weise erklärt, dass die Beherrschung von Themen wie „künstliche Intelligenz“ oder „rechnerbasierte und -gesteuerte Systeme“ über das wirtschaftliche Wohl und Wehe, ja gar über die „Weltherrschaft“ (was auch immer damit gemeint sein soll) bestimmen wird.

Entscheidende Fortschritte werden aber erst durch umfassende Datensammlungen, eben „Big Data“, möglich sein – und nicht mit Datensammlungen, die durch allerlei Widerspruchsrechte eingeschränkt sind. Eine beispielsweise schon bei der Geburt angelegte „Bürger- und Gesundheitsakte“ einschließlich (pharmako-)genetischer und biometrischer Daten würde die Suche nach einem Knochenmarkspender auf einen Tastendruck reduzieren, aber auch (fast) jeden Kriminellen anhand des „genetischen Fingerabdrucks“ sofort identifizieren. Autonomes Fahren wird nicht möglich sein, wenn jeder zu allen möglichen Teilaspekten seine stets widerrufliche Zustimmung geben muss. Das sind Tatsachen.

Sicher bestehen bei umfänglichen Daten in der Hand von Privatfirmen berechtigte Bedenken. Probleme entstehen nämlich stets bei Informations-Asymmetrien, verkompliziert durch eine immer schwerer überschaubare Rechtslage: Eine „Datenkrake“ oder ein übermächtiger Staat „weiß alles“, die vielen Kunden, Bürger oder sonst Beteiligten wissen (fast) nichts. Meist ahnen sie nicht einmal, was die „Krake“ alles wissen könnte …

Die Lösung: Größtmögliche Transparenz und „Waffengleichheit“ auf dem Weg zu einer gesellschaftlich akzeptierten und gemeinwohlorientierten Nutzung der Datenschätze – und nicht Überregulierung und Überhöhung individueller Rechte. Dieses Thema ist schlicht zu wichtig, als dass man es Bürokraten oder weltfremden Juristen überlassen darf. Stattdessen ist eine ehrliche Auseinandersetzung samt Diskussion der gewaltigen Chancen und auch Risiken gefragt, was in einen gesellschaftlichen Konsens münden sollte.

Aufgrund des alle Lebensbereiche durchziehenden Querschnittcharakters der Daten- und Informationstechnologien werden sich jedoch Verhinderungsstrategien – wie früher in der Gen- und Atomtechnik – dieses Mal als sehr effektive Sargnägel für die Zukunftsfähigkeit Europas erweisen. Die „Ernte“ einer solchen Politik werden wir aber erst in etlichen Jahren einfahren.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(10):19-19