Prof. Dr. Reinhard Herzog
Die letztjährigen Apothekenzahlen haben einen Trend fortgeschrieben: Der Abstand zwischen kleinen und großen Apotheken vergrößert sich. 28% der Betriebe (absolut knapp 5.500) liegen unterhalb von 1,5 Mio. € Umsatz und erwirtschaften gerade einmal 13% des Branchenumsatzes. Die „Oberklasse“ ab 4 Mio. € macht 8% oder rund 1.600 Betriebe nach Anzahl aus, bringt aber annähernd 25% des Gesamtumsatzes auf die Waage. Betrachtet man noch die Bündelungseffekte infolge der Filialen, haben heute 20% der Inhaber etwa 40% des Marktes in der Hand. Zudem sind die Wachstumsraten der starken Apotheken regelhaft höher, die Kluft wird also größer.
Damit stehen die Apotheken nicht alleine. Sie zeichnen nur mit Verzögerung eine länger andauernde gesellschaftliche Entwicklung nach. So wird viel über die Vermögensungleichheit debattiert: Das reichste Prozent besitzt ein Drittel des Vermögens, den reichsten zehn Prozent gehören fast zwei Drittel, die ärmere Hälfte hat nicht einmal 3%. Erbschaften – die meisten überschaubar, der kleinere Teil aber hoch ausfallend – beflügeln auch dank steuergünstiger Übertragung die Ungleichheit weiter.
Schon weniger bekannt sind viele andere Ungleichgewichte. Gerade die Digitalökonomie befördert das Prinzip „The winner takes it all.“ Das Ergebnis sehen wir an Firmen wie Amazon, Facebook oder Google. Und auch in der Versandapotheken-Landschaft findet gerade eine Konsolidierung statt. Wer schnappt sich die verbleibenden kleineren Haie und formt daraus einen kaum einholbaren Marktführer?
Unsere Medikamentenausgaben fallen immer weiter auseinander: 0,07% der Rezeptkunden stehen für 10% der Kosten (im Schnitt 80.000 € pro Kopf!), das teuerste „Prozent“ braucht ein gutes Drittel. Krankenhauskosten verteilen sich ähnlich ungleich. Ursächlich ist die High-Tech-Medizin. Galt früher: „Der Patient ist nach einer Woche tot oder gesund“, können wir nun einstmals kaum behandelbare Krankheitsverläufe zwar nach wie vor meist nicht heilen, aber doch in die Länge ziehen, teils als chronische Erkrankung über Jahre und Jahrzehnte hinweg, zu entsprechenden Kosten. Extrem teure Spezialpräparate (v.a. bei Orphan Diseases, Krebs, Autoimmunerkrankungen) lassen einen einzelnen Patienten bisweilen zu einer Multi-Millionen-Euro-Investition werden.
Es ist verrückt: Da wird die Vermögensungleichheit thematisiert, aber solche „negativen Ungleichheiten“ in Form von Aufwand und Kosten gibt es quer durch die Gesellschaft mit steigender Tendenz. So lassen singuläre Ereignisse, medial breitgetreten, den Staatsapparat regelhaft rotieren und bewegen infolge neuer Gesetze und Schutzmaßnahmen Millionen- oder gar Milliardenbeträge – ob für Terrorabwehr, Schadstoffreduktionen oder den Schutz von allerlei Getier. Immer aufwendigere Regularien sollen dafür sorgen, ein bereits sehr hohes Sicherheits- und Schutzniveau noch ein wenig weiter zu steigern. Regelwidrig handelnde Einzelne können übrigens so der Gesellschaft leicht ihren Stempel aufdrücken. Der aufmerksame Leser wird reihenweise Beispiele in seinem Umfeld finden. Auch die Industrie ist betroffen: Die immer höheren Standards können zunehmend nur noch von starken Großunternehmen eingehalten werden.
Das Muster ist immer das Gleiche: Für nur noch wenig Zusatznutzen wird ein geradezu irrsinniger Aufwand getrieben. Dies ist einerseits ein Wirtschaftsmotor (ohne den ganzen Überbau würde ein dramatischer Einbruch drohen), führt aber andererseits dazu, dass immer mehr Kleinere kapitulieren müssen – und die Schere weiter aufgeht.
Die tiefere Ursache mag zugleich erschrecken und beruhigen. Sie liegt schlicht darin, dass wir dem einzelnen Individuum einen so hohen Wert zumessen wie noch nie – die Konsequenz einer hochgradig individualisierten, auch ziemlich egoistischen Gesellschaft. Alternativ könnten wir Gemeinwohl vor Individualwohl stellen, wieder mit höheren Lebensrisiken leben und uns weniger um Standards scheren. Denn es gilt der alte Handwerker-Spruch: „Nach fest kommt ab!“ Man kann Schrauben überdrehen. Dann schwingt das Pendel in die andere Richtung, und Verwerfungen drohen. Der Blick in die Geschichte lehrt, wie das aussehen und Maßstäbe wieder verschieben kann.
Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(11):19-19