Helmut Lehr
Während der Wertzuwachs des vererbten steuerpflichtigen Grundvermögens nach Berechnungen der WirtschaftsWoche (vgl. Ausgabe 32/2022, S. 16f.) von 2009 bis 2021 satte 251% betrug, blieben die persönlichen Freibeträge unverändert. Das bedeutet, dass Erben von Immobilien aufgrund dieser enormen Wertsteigerung auch mit einer nennenswerten Erbschaftsteuerbelastung rechnen müssen, sofern die persönlichen Freibeträge überschritten werden und keine sachliche Steuerbefreiung greift.
Vor diesem Hintergrund rückt die Steuerbefreiung für das geerbte Familienheim besonders in den Fokus – insbesondere, wenn die eigenen Sprösslinge erben.
Erben Kinder ein im Inland gelegenes Haus von ihren Eltern bzw. einem Elternteil, bleibt dieser "Erwerb" steuerfrei, falls
- der Erblasser darin bis zu seinem Tod eine Wohnung zu eigenen Wohnzwecken genutzt hat (sog. Familienheim),
- die Wohnung durch den Erben unverzüglich zu eigenen Wohnzwecken genutzt wird und
- die Wohnfläche des jeweiligen Objekts 200 qm nicht übersteigt.
Das ver- bzw. geerbte Familienheim muss anschließend mindestens zehn Jahre lang vom Erben als Wohnung selbstgenutzt werden – andernfalls fällt die Steuerbefreiung mit Wirkung für die Vergangenheit weg.
Hinweis: Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn der Erbe innerhalb dieser zehn Jahre aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung gehindert war. In solchen Fällen bleibt die Steuerbefreiung erhalten.
Was ist ein zwingender Grund?
Gesundheitliche Probleme (des Bewegungsapparats), die eine Nutzung des Obergeschosses nur schwer möglich machen, waren für das Finanzgericht Düsseldorf in der Vergangenheit kein ausreichend zwingender Grund, um auf eine nachträgliche Besteuerung zu verzichten (vgl. AWA 07/2021).
Der Bundesfinanzhof hat dies in seiner kürzlich veröffentlichten Revisionsentscheidung allerdings anders gesehen (vgl. Urteil vom 1.12.2021, AZ: II R 18/20). Demnach können gesundheitliche Beeinträchtigungen sehr wohl zwingende Gründe darstellen, wenn sie dem Erben eine selbstständige Haushaltsführung in dem vererbten Familienheim unmöglich machen.
Hinweis: Ein "zwingender Grund" ist nach aktueller Verwaltungsauffassung auch gegeben, wenn das geerbte Familienheim aufgrund höherer Gewalt (z.B. Hochwasser, Starkregen, Sturm, Brand, Explosion) zerstört wird. Ein Wiederaufbau des Objekts ist für den Erhalt der Steuerbefreiung nicht notwendig (vgl. Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder vom 09.02.2022, AZ: S 3812).
Was bedeutet unverzüglich?
Da die Steuerbefreiung nur dann in Betracht kommt, wenn der Erbe unverzüglich in das Familienheim einzieht, stellt sich die Frage, innerhalb welcher Frist der Einzug zu erfolgen hat.
Im Allgemeinen gilt ein Zeitraum von sechs Monaten als angemessen, die Finanzverwaltung dürfte bei einem Einzug innerhalb dieser Frist zumindest keine Schwierigkeiten machen. Dauert es länger, muss der Steuerpflichtige – also der Erbe – nachweisen, warum die Nutzung erst später begonnen hat (vgl. hierzu AWA 23/2019).
Einen interessanten Fall hat der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 06.05.2021 (AZ: II R 46/19) zugunsten des Erben entschieden. Demnach nutzt dieser das geerbte Familienheim selbst dann zu eigenen Wohnzwecken – wie gesetzlich gefordert –, wenn er es mit seiner eigenen Wohnung baulich verbindet. Im Streitfall bewohnte der Vater (Erblasser) eine Doppelhaushälfte, die sich direkt neben der Doppelhaushälfte seines Sohnes (Erbe) befand. Nach dem Erbfall renovierte der Sohn die ehemalige Wohnung seines Vaters und nutzte fortan beide Wohnungen selbst.
Nach Ansicht des Bundesfinanzhofs ist es nicht erforderlich, dass der Erbe die frühere Familienwohnung des Erblassers als eigene, getrennte Einheit nutzt.
Hinweis: Die Steuerbefreiung darf nach Ansicht des Bundesfinanzhofs auch nicht deshalb versagt werden, weil die beiden Doppelhaushälften in der Summe die "Flächengrenze" von 200 qm überschreiten – maßgeblich ist allein die Größe der geerbten Einheit (hier: Doppelhaushälfte des Vaters).
Ganz aktuell: Überlastete Handwerker
In seinem Urteil vom 06.05.2021 (siehe oben) hat der Bundesfinanzhof auch nochmals betont, dass ein zeitlicher Verzug bei der Nutzung der geerbten Wohnung insbesondere dann nicht nachteilig ist, wenn die Wohnung gravierende Mängel aufweist und der Erbe den Baufortschritt angemessen fördert. Soll heißen: Bei der Renovierung ist dem Erwerber eine zeitliche Verzögerung nicht anzulasten, wenn er die Arbeiten unverzüglich in Auftrag gibt, die beauftragten Handwerker sie aber aus Gründen, die der Erbe nicht zu vertreten hat, nicht rechtzeitig ausführen können.
Hinweis: Laut Bundesfinanzhof ist eine hohe Auftragslage der Handwerker durchaus ein entschuldbarer Grund für den verspäteten Einzug des Erben! Den zeitlichen Fortgang der Renovierung bzw. etwaige Verzögerungen sollten Sie natürlich möglichst penibel dokumentieren, um hinterher nicht in Beweisnöte zu geraten – schließlich steht die Steuerbefreiung in Gänze auf dem Spiel.
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2022; 47(19):16-16