Die andere (Weihnachts-)Geschichte

Früher war mehr Lametta …


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Unser heutiger Jahresend-Streifzug führt uns zu einer alteingesessenen Kirchenmaus-Dynastie in einer typischen deutschen, größeren Stadt. Arm waren sie der Sage nach schon immer, doch verglichen mit früheren Zeiten sind das langsam keine leeren Worthülsen mehr. Die Zahl der Kirchenbesucher, bei denen stets der eine oder andere Krümel für die Mäuslein abfiel, war schon geraume Zeit stark rückläufig. Warum, das konnten sie sich mit ihrem begrenzten Einblick in die (Un-)Tiefen menschlicher Seelen nicht erklären. Und so machten die kleinen Pelztiere der Not und dem Hunger gehorchend immer weitere Touren in die umgebende Stadt.

Bisweilen führte ihr Weg auch in die Apotheken. Allzu viel gab es dort nicht zu holen, und selbst das Wenige schien sogar dort immer sparsamer auszufallen. Jedoch war es immer wieder ein Heidenspaß, die eine oder andere der überwiegend weiblichen Angestellten bei ihrem Anblick voller Entsetzen auf den Tresen (man nannte diesen dort fachkundig wohl Handverkaufstisch) springen zu sehen. Nun, die Mäuse waren dort traditionell nicht gern gesehen, selbst in der einen oder anderen tierfreundlichen Apotheke, die sich eher den Hunden oder gar, wie schockierend, den zahlreichen Katzen ihrer Kundschaft widmete. Den Rest taten irgendwelche gestrengen und zumeist über Kleinigkeiten nörgelnde Kontrolleure (man nannte sie wohl Pharmazieräte), die jedwedes tierische und sogar pflanzliche Leben in der Apotheke aus angeblichen Hygienegründen untersagten. Und so drohten in manch Apotheke sogar fiese Mausefallen, denen die Tierchen allerdings überall begegneten, galten sie doch, vielgepriesener Tierschutz hin oder her, zumeist als Ungeziefer.

So streiften sie weiter durch die Fußgängerzonen der Stadt. Von Corona-Zeiten war man ja bereits diverse Einschränkungen gewöhnt, dass aber nun sogar die Straßen- und Schaufensterbeleuchtungen über den größten Teil der Nacht abgedreht wurden, war neu in einem Land, welches sich die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde nennt. Die ehemals anheimelnden, zum Jahresende hin bislang stets weihnachtlichen Lichtstimmungen waren auf ein Minimum reduziert. Festlich erstrahlende Weihnachtsbäume hatten Seltenheitswert. Für die Mäuse ist die Dunkelheit nicht unbedingt ein Nachteil. Aber auch sie merkten – früher war einfach mehr Lametta! Wie schön, dass wenigstens die Zahl der Fressbuden mit neudeutsch Fingerfood oder Convenience-Food auf einem Rekordstand angelangt war und deren zunehmende Internationalität den Mäuslein eine nie gekannte Vielfalt an Speisen bescherte. Irgendwas fiel immer ab, zumal die Disziplin der schwach behaarten Zweibeiner immer mehr zu wünschen übrig ließ und die zunehmende Vermüllung weiter Straßenzüge zumindest aus Mäusesicht ein echter, positiver Maus-Konjunkturfaktor war.

Selbst den kleinen Fellnasen fiel auf, wie sich die Ladenlandschaft rapide veränderte. Das Highlight war einst der Besuch eines der großen Kaufhäuser. Was gab es da nicht alles zu entdecken, von Etage zu Etage. Ja, gab es, das ist zumindest in dieser Stadt Geschichte und in vielen anderen absehbar ebenfalls. Und ähnlich wie in den Apotheken war es in den ehemals so zahlreichen Buchhandlungen mit ihrer meist weiblichen Belegschaft die Riesengaudi, mit ihrem Erscheinen den einen oder anderen Urschrei auszulösen. Obwohl die Mäuse eher weniger lesen, vermissen sie diese Spaßeinlage doch.

Inzwischen nahm sogar die Zahl der einst übermächtigen Bekleidungs- und Schuhläden spürbar ab. Immerhin konnte man dort den einen oder anderen Stofffetzen für den heimischen Nestausbau abgreifen. Spielwarenläden mit ihren früheren, schönen Schaufenstern, die Kinderaugen groß werden ließen, waren eine Rarität geworden. Das war insoweit etwas misslich, weil Mama und Papa Maus ihrem Nachwuchs anhand der ehemals zahlreich ausgestellten (Plüsch-)Tiere die Hauptfeinde schön plastisch und gefahrlos erklären konnten.

Man spricht unter den Zweibeinern nun von Internet und Online-Handel, wo es das alles in viel größerer Vielfalt gibt. Die Digitalisierung der Mauselöcher steht indes aus. Aber wenn es so weitergeht, wird auch das kommen müssen, damit es weiterhin heißt: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute …"

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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