GKV-Rezepte und Bürokratie

Beinahe eine Milliarde Euro versanden


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Apotheken spüren es Tag für Tag: Die Bürokratie überwuchert den Alltag. Speziell das unverzichtbare Standbein GKV-Rezepte leidet unter einer völligen Überregulierung. Doch wie hoch sind die Bürokratiekosten tatsächlich? Eine praktische Erhebung geht dieser Frage nach.

Erdrückende Bürokratiekosten (@Gina Sanders/Stock.adobe.com)

Der Verband Innovativer Apotheken e.V. (VIA, Berlin) und der Autor haben im Herbst 2022 eine Erhebung unter ausgewählten Mitgliedsapotheken gestartet. Betrachtet wurde nur der (Zeit-)Aufwand vorrangig im Gefolge des §129 SGB V, also die Themen Rabattverträge, Retaxationen, Rezeptkontrolle und Zusatzaufwand bei der konkreten Patientenversorgung. Nicht berücksichtigt wurden der Sachaufwand (z.B. für die IT) sowie die speziellen und gleichfalls erheblichen Belastungen der Apotheken durch die Besonderheiten der Apothekenbetriebs- und Berufsordnung, das Thema Präqualifizierung sowie sonstige Regularien, die speziell Apotheken, aber teils auch andere Branchen belasten. Diesen "Rest" umreißen wir in einem weiteren Beitrag.

Methodik

13 Apotheken (Stadtteillage, Lauflage/Center, Ärztehaus, Land) nahmen anhand eines Excel-Datenerfassungsblattes an jeweils fünf repräsentativen Offizintagen eine exakte Erhebung der Bürokratiezeiten wie folgt aufgeschlüsselt vor.

1. Zeiten am Handverkaufstisch:

  • Erfassung der Rezeptdaten, Auffinden von Rabattvertragsarzneimitteln,
  • zeitlicher Kundenaufwand rein administrativer Art im Hinblick auf Lieferbarkeit, Austausch von (Rabatt-)Präparaten etc.,
  • Handling der Zuzahlungen.

2. Außerhalb des HV-Bereichs:

  • Nachkontrolle der Rezepte,
  • Rücksprache mit Ärzten, Zeitaufwand für Rezeptänderungen,
  • Aufwand, um die Rezepte abrechnungsfertig zu machen,
  • Retaxationsbearbeitung.

Die Apotheken bearbeiteten an den jeweils fünf Erhebungstagen insgesamt rund 12.100 Rezepte; 43% wurden durch Approbierte beliefert (im Maximum 61%), der Rest durch PTA und zu einem geringen Teil Pharmazieingenieure. Mit durchschnittlich 53.000 GKV-Rezepten im Jahr (Spannbreite 15.750 bis 140.000) sowie im Schnitt 120.000 Bonkunden p.a. (von 25.000 bis 256.000) bewegten sich die Studienapotheken mehrheitlich im gehobenen Segment mit gutem Organisations- und Technisierungsgrad.

Ergebnisse

Über die Apotheken hinweg gemittelt und um die beiden höchsten und den niedrigsten Extremwert bereinigt, erfordert ein GKV-Rezept 3,25 Minuten Bürokratiezeit. Die Mehrheit bewegt sich um 2,5 bis 3,5 Minuten (Abbildung 1). Der Zeitaufwand wird zu etwa gleichen Teilen von Approbierten und PTA bzw. den selten gewordenen Pharmazieingenieuren geschultert. Nur zum geringen Teil (7%) sind nicht-pharmazeutische Kräfte damit befasst.

Bürokratiekosten je GKV-Rezept

Verrechnet mit den in der Studie ebenfalls erfassten, individuellen Stundenkosten, ergeben sich 2,02 € je Rezept. Um die Extremwerte bereinigt und über die Rezeptzahlen (nicht Apotheken) gemittelt, stellt dieser Wert insoweit eher eine Untergrenze dar.

Die meisten Kosten (etwa zwei Drittel) fallen am Handverkaufstisch an. Der kleinere Teil spielt sich im "Backoffice" ab, das meiste für die Rezept-Nachkontrolle, die immerhin 0,5 bis knapp eine Minute je Rezept erfordert und durch teures pharmazeutisches Fachpersonal, nicht selten Approbierte, erledigt wird.

Bundesweite Hochrechnung

Auf Gesamtdeutschland hochgerechnet entspricht das GKV-Rezeptbürokratiekosten von mindestens 900 Mio. € (Abbildung 2), je Apotheke im Durchschnitt etwa 49.000 €. Ironie am Rande: Der Kassenabschlag von 1,77 € brutto je Rx-Packung (ab 2023 2,00 €) schlägt bereits heute effektiv in ähnlicher Höhe zu Buche.

Gebundene Personalstellen

Mindestens ähnlich problematisch in Zeiten des Fachkräftemangels ist die Tatsache, dass so rund 14.000 Vollzeitstellen, davon etwa 6.600 Stellen von hochqualifizierten Approbierten und eine ähnliche Zahl an PTA bzw. Pharmazieingenieuren, fehlalloziert werden. Sie fehlen in der Patientenversorgung und für auch volkswirtschaftlich bedeutende Tätigkeiten der pharmazeutischen Betreuung.

Skaleneffekte?

Eine Korrelation (R2-Wert) zwischen der Zahl der belieferten Rezepte und damit letztlich der Apothekengröße sowie dem Bürokratieaufwand deutet sich allenfalls sehr schwach an (Abbildung 3). Die "Skaleneffekte" sind insoweit überschaubar. Der individuelle Organisationsgrad dürfte eine größere Rolle spielen, wobei starke Apotheken hinsichtlich Ausstattung und Ressourcen meist im Vorteil sind. Die typische Apotheke wird deshalb tendenziell eher etwas höhere Bürokratiekosten je Rezept als hier ermittelt zu schultern haben.

Validität

Selbst wenn die Zahl der Apotheken mit 13 als (zu?) gering erscheinen mag und man insoweit Zweifel an der Exaktheit der Daten hegen könnte: Die Zahl der untersuchten Rezepte gestattet eine hinreichend hohe statistische Sicherheit. Aufwand und Kosten der einzelnen Apotheken bewegen sich, wenn die Extremwerte ausgeblendet werden, in einem recht engen Korridor (siehe nochmals Abbildung 1). Man mag über einige Cent mehr oder weniger je Rezept diskutieren können, die Größenordnung ist sicher umrissen. Nebenbei: Sogar ein nur halb so hoher Aufwand – mithin noch 400 bis 500 Mio. € – wäre bereits eine mehr als bedenkliche Größenordnung.

Vergessen wir nicht, dass das Meiste des bürokratischen Aufwandes vor allem im Gefolge der Rabattverträge erst nach Einführung des ursprünglichen Kombimodells 2004 (einmal 2013 um 0,25 € erhöht) angefallen und deshalb gar nicht im Honorar abgebildet ist. Im Gegenteil, es wird noch ein Kassenabschlag erhoben.

Retaxationssummen

Weiterhin erhoben wurden die Retaxationssummen. Diese schwankten, auf das einzelne GKV-Rezept umgerechnet, zwischen rund 5 und 9 Cent, im Mittel 6 Cent. Hochgerechnet auf 450 Millionen GKV-Rezepte ergeben sich so 27 Mio. €.

Eine unlängst vom Deutschen Apotheken Portal (DAP) mit 2.228 Teilnehmern durchgeführte Umfrage [Quelle: Deutsche Apotheker Zeitung 47/2022, S. 44ff.] ergab, dass 44,5% eine Retaxsumme von weniger als 100 € pro Monat zu beklagen hatten, 42,9% 100 € bis 200 €, 8,5% über 200 € bis 500 €, und 4,1% gar über 500 €.

Bundesweit entspricht das somit etwa 30 bis allenfalls 40 Mio. €, das sind weniger als ein Promille des Abrechnungsvolumens.

Lösungsansätze heute

Einstweilen müssen Sie leider noch mit der Bürokratie leben. Sie können nur sehen, die ganzen Zeitfresser möglichst zu minimieren oder zeitlich so zu verschieben, dass der flüssige Apothekenbetrieb im (teuren) Verkauf möglichst wenig beeinträchtigt ist. Technische Lösungen der IT-Anbieter sind dafür das eine. Deren Kosten speziell für die Feinheiten der GKV-Rezeptbearbeitung und -prüfung dürften übrigens bundesweit ebenfalls einen niedrig zweistelligen Millionenbetrag pro Jahr ausmachen.

An den Rezeptwerten, sprich dem potenziellen Retaxrisiko, orientierte Prüfungsroutinen sind eine weitere Strategie. Das bedeutet die Abkehr von der 100%-Prüfung. Neuere Vereinbarungen mit den Kostenträgern auf Landesebene sehen erfreulicherweise mehr und mehr eine Abkehr von der Vollretaxation vor. Es bleibt aber trotzdem der hohe und teure Aufwand (HV-Zeit!) für das Handling der Rabattverträge und aktuell auch der u.a. daraus resultierenden Lieferengpässe.

Fazit und Ausblick

Der bürokratische Aufwand zur liefervertragskonformen GKV-Rezeptbelieferung hat sich über die Jahre verselbstständigt und gipfelt in Kosten von annähernd 1 Mrd. € allein für den Zeitaufwand.

Umso mehr kommt es darauf an, die Einführung des E-Rezeptes für grundlegende Vereinfachungen und Straffungen an den Belieferungs-, Kontroll- und Abrechnungsprozessen zu nutzen. Das muss nicht zulasten der Kostenträger gehen, im Gegenteil. Auch die Krankenkassen betreiben einen hohen Aufwand mit ihren (oft ausgelagerten) Prüfzentren. Insoweit "verdienen" die Kassen nicht einmal wirklich Geld mit den Retaxationen, wenn man sich die Summen anschaut.

Die schlechteste Lösung wäre, die heutigen Abläufe nur eins zu eins in die Digitalwelt zu überführen. Gut gemeinte Hilfsmittel wie ein "Rezeptvalidator" in der Apotheke packen das Problem nicht an der Wurzel, sondern verschieben es nur innerhalb der Digitalwelt. Zur Minimierung der Bürokratiekosten sollten daher folgende Ziele angestrebt werden:

  • Schon bei der ärztlichen Verordnung des E-Rezeptes werden die Formalia geprüft; in der Apotheke ankommende Rezepte sind insoweit valide. Das erfordert u.a. aktuelle Arzneimitteldatenbanken in den Praxen.

Die Abrechnung erfolgt direkt und zeitnah. Hemmschuhe wie die Herstellerrabatt-Verrechnung werden von der Apothekenebene ferngehalten. Der eine oder andere Posten in diesem Umfeld entfällt damit allerdings auch.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2023; 48(02):4-4