Prof. Dr. Reinhard Herzog
Prophezeite man vor einigen Jahren, dass wir auf dem besten Weg in die Dritte Welt von übermorgen seien, wurde man schräg angeschaut. Doch ist das damalige Übermorgen nicht bereits unser Heute? Zeitenwende ganz anders? Das mag immer noch provokativ klingen. Doch sehen wir ehrlich hin. Vergessen wir nicht, dass der Wohlstand aus früheren Tagen (noch) viel kaschieren kann!
Starten wir im eigenen Umfeld. Dass in einer 4-Billionen-Dollar-Volkswirtschaft einmal Allerwelts-Präparate wie Fiebersäfte oder Basis-Antibiotika ausgehen würden und mit massivem Aufwand rezepturmäßig hergestellt werden müssen – das hätte niemand glauben wollen. Viele weit ärmere Länder lachen heute über so etwas. Dabei waren wir gewarnt. Wie war das mit Masken und Desinfektionsmitteln?
Inzwischen können wir hinschauen, wo wir wollen. Die Deutsche Bahn, heute eher ein lizenzpflichtiger Glücksspielbetrieb: Hauptgewinn pünktliche Ankunft am Wunschziel, mit Fahrpreisen als Spieleinsätze und Fahrscheinen als Lotterielose. Viele Straßen erinnern leibhaftig an die Dritte Welt, wenn sie denn überhaupt noch für den motorisierten Verkehr genutzt werden dürfen. Elementarbedürfnisse wie Heißwasser, eine warme Wohnung und gesunde Lebensmittel werden zum Luxusgut. Dritte-Welt-Leistung, aber Erste-Welt-Preise!? Selbst staatlich verordneter Doppel- oder x-fach-Wumms kann daran auf Dauer nichts ändern. Der Anteil der industriellen Wertschöpfung sinkt seit Jahren, von einst 25% auf unter 20%. Das fängt im Moment steigender Staatskonsum auf, geparkt in "Sondervermögen", tatsächlich Schulden.
Die Energie- und Ökowende ist in der Tat eine Jahrhundertchance, die vom internationalen Kapital längst als solche erkannt ist. Nur wird sich kein vernünftiger Staat in der übrigen Welt einer Politik anschließen, welche sich u.a. anschickt, Billionen Euro für nicht einmal 100 Millionen Tonnen jährliche CO2-Einsparung aufzuwenden, wie im Gebäudebereich geplant. Man nehme dazu 3 bis 4 Milliarden Quadratmeter Nutzfläche und multipliziere mit den typischen klimatauglichen Sanierungskosten um oder gar über 1.000 € je Quadratmeter: Es ist ja nur Geld, "stupid german money" – solange eben welches da ist. So wird das nichts. Andere Nationen werden der Klimathematik klüger, innovativer und wirksamer beikommen. Da gibt es nach wie vor so viel zu entwickeln und noch mehr zu verdienen – nur von wem in der Welt? Wer wird gewinnen, wer verlieren?
Demnächst tritt die starke Generation der Babyboomer ab und muss ernährt werden, doch was kommt nach? Auch hier Ernüchterung: Würde man Schulklassen oder Uni-Semester face-to-face ebensolchen aus Indien, Vietnam, Indonesien, nicht zu reden von Südkorea oder China, gegenüberstellen und elementare sprachliche sowie (natur-)wissenschaftliche Fähigkeiten vergleichen, die Bilanz sähe wohl ähnlich aus wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft.
Die Ursachen sind struktureller Art und tief in unserer DNA verankert. Deutschland und EU können, erst recht wenn der Staat ins Spiel kommt, vor allem kompliziert und teuer. Das beginnt bei der unsäglichen Bürokratie und dem Bedürfnis, es allen recht machen zu wollen. So wird aus selbst überschaubaren Vorhaben ein komplexes Dickicht, welchem man nur zeitraubend mit höchstem Aufwand entkommt – und trotzdem nur zweit- oder drittklassige Ergebnisse erhält. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Eher nicht. Zudem leisten wir uns zunehmend für sehr Wenige exorbitant viel (siehe in unserem Bereich die Hochkostenmedizin), bei gleichzeitiger Erosion in der Breitenversorgung. Doch wo gewinnen oder verlieren wir eigentlich mehr Lebensjahre und Lebensqualität? Quer durch alle Lebensbereiche binden "Goldrandlösungen", oft wieder Komplexitäts- und Minderheitenthematiken geschuldet, überproportional viele Ressourcen, ohne erkennbar adäquaten Nutzen. Gerade liefert auch das Militär einige Lehrstücke.
Das ruft alles nach einer Generalrevision, nicht zuletzt im Gesundheitswesen, welches jeden achten Euro der Wirtschaftsleistung bindet. Mit Kosmetik und Schminke ist es nicht mehr getan. Systeme gehören wieder vom Kopf auf die Füße gestellt, "entschlackt" sowie Privilegien leistungs- und nutzengerecht neu ausgehandelt. Wir müssen wohl noch viel weiter sinken, bevor der Prozess "Lernen durch Leiden" einsetzt. Dumm nur, dass dann die Aufholjagd sehr hart wird, weil derweil andere auf der Welt besser geworden sind und unsere einst erfolgreich verteidigten Plätze in der globalen Wertschöpfungskette einnehmen. So gilt im Moment: Die jeweils aktuelle Lage in "Sehrohrtiefe" peilen, erforderlichenfalls abtauchen!
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