Weniger ist mehr

Inflation und Ökologie – Partner im Geiste?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Bislang ist im alltäglichen Einkauf noch keine nennenswerte Entspannung im Geldbeutel zu spüren. Ungeachtet des Charmes der Inflation, auch Schulden zu entwerten und insoweit dem Gelddrucken ohne Gegenwert einen formal-bilanziellen Unterbau zu geben, könnte sich eine anhaltend hohe Inflation als einer der besten Steigbügelhalter für die ökologische Transformation erweisen. Long story short: Otto/Lisa Normalverbraucher:in kann sich schlicht immer weniger leisten, und das schont den Planeten. Zumindest können wir uns so fühlen, denn ob die Mehrheit auf der Welt diesen Weg der Öko-Askese mitgeht, sei dahingestellt, ja bezweifelt.

Nichtsdestotrotz: Verzicht ist in, zumindest solange er sich auf Äußerlichkeiten beschränkt. Denn im ökologisch wirklich einschlägigen Verzichtsparadies besteht der tägliche Einkauf nur noch aus (idealerweise regionalen) Grundnahrungsmitteln, und 90 % der heutigen Fertigpackungen und zahlreichen Produktvarianten verschwinden (bzw. bleiben als Nische einigen Luxusgeschäften vorbehalten). Der Clou: Trotzdem kostet der Einkauf so viel wie heute oder sogar mehr. Willkommen zurück in Mittelalter und (Öko-)Feudalgesellschaft, mag mancher nicht ganz grundlos einwenden! Allerdings: Der Stücknutzen am einzelnen Artikel wäre so hoch wie nie, bei gleichzeitig weit einfacherer Logistik, Lagerhaltung, weniger Raumbedarf und geringerer Kapitalbindung, am Ende womöglich niedrigerer Personalkosten. Das impliziert auf der anderen Seite sehr schöne Gewinne auf Rekordniveau bei ruhigerer Arbeit, erst recht, wenn man den Wettbewerb planwirtschaftlich reguliert.

Die Umwelt würde geschont, Verpackungsmüll und Transportkilometer wären minimiert. Der Gesundheit wäre unter dem Strich ebenfalls gedient, denn es entfallen viele hochverarbeitete, hochkalorische, mehrheitlich gesundheitsschädliche Lebensmittel. Was man für Lebensmittel postulieren kann, lässt sich zwanglos auf andere Branchen übertragen. Beispiel Textilien: Früher wurde eine Lederhose vererbt, Schuhe hielten viele Jahre und wurden repariert. Über die zahlreichen elektronischen Gimmicks brauchen wir gar nicht erst anfangen, das Potenzial liegt auf der Hand. Es ist durchaus in der Politik angekommen: verpflichtende Reparaturfähigkeit von Geräten, Maßnahmen gegen die „Obsoleszenz“ (geplantes Kaputtgehen), das weite Thema Materialbeschaffenheit und Rohstoffe u. a. m. Dennoch scheut man sich vor einer zu radikalen Abkehr von der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Es hängen (noch) zu viel Wirtschaftsleistung und Wohlstand, am Ende eben auch Steuern und so manch Politiker-Pöstchen daran.

Wie könnte übrigens in diesem Kontext eine Apotheke der Zukunft aussehen? Würde man das Warenangebot heute noch einmal auf dem weißen Blatt neu aufsetzen – es sähe wohl deutlich anders aus. Bräuchten wir Ibuprofen oder Bisoprolol von zig Firmen in einer Vielzahl von Aufmachungen, und dabei noch den unrühmlich-verzerrenden Einfluss der Rabattverträge auf das Produktangebot? Benötigen wir bei Licht betrachtet eine solche Vielzahl (nicht selten überteuerter) Kosmetikprodukte oder Nahrungsergänzungen? Tatsächlich gibt es immer noch eine ganze Reihe von Fällen, in denen industrielle Massenprodukte (aber eben nicht zu sehr fragmentiert) unschlagbar sind. Immer häufiger ist aber die Individualisierung gefragt, und es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass heute teuer konfektionierte Fertigpräparate aufwendig ausgeblistert und anschließend wieder in lustige, kleine Schlauchbeutelchen umgefüllt werden.

Tatsächlich könnte die Renaissance der Apotheke wieder in der Individualherstellung liegen und verloren gegangene Kompetenz zurückbringen: Der 3D-Druck oder Konzepte auf Basis wirkstoffspezifischer, individuell dosierbarer und leicht einnehmbarer Mikropellets mögen als Stichworte dienen. Ähnliches ließe sich für Nahrungsergänzungen professionell ausrollen (Ansätze gab es schon), und selbst für die Kosmetik. Am Ende ist es ein Rechenexempel, aber angesichts der Kostenaufrisse typischer Fertigprodukte und der heutigen Therapieversager- und Nebenwirkungsraten eröffnen sich Chancen. Auf diesem Weg agieren wir zielgerichtet-wirksamer, individueller, hochwertiger, und erreichen mit weniger tatsächlich mehr. Könnte das unsere Zukunft sein?

 

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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