Wenn Sie als Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit eines Mitarbeiters anzweifeln

Das ärztliche Attest ist kein Freifahrtschein


Jasmin Johanna Herbst, LL.M.

Die Statistiken der vergangenen Jahre zeigen einen klaren Trend: Krankheitsbedingte Fehlzeiten im Beruf erreichen in Deutschland ein Rekordhoch. Ob tatsächlich eine Krankheit vorliegt, wenn eine ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung vorgelegt wird, ist aus Sicht des Arbeitgebers nicht immer ohne Zweifel. Das Bundesarbeitsgericht hat dieses wichtige Thema in einem aktuellen Urteil erneut aufgegriffen.

Eine Krankmeldung hat zwar hohen Beweiswert vor Gericht, ist aber dennoch kein Freifahrtschein für den Arbeitnehmer. (© AdobeStock/mpix-foto)

Das Arbeitsverhältnis ist grundsätzlich ein Austauschverhältnis von Zeit und Geld. Beides steht jeweils in Abhängigkeit voneinander. Leistet der Arbeitnehmer nicht die von ihm geschuldete Arbeitszeit, so hat er grundsätzlich auch keinen Anspruch auf Vergütung. Von diesem Grundsatz „Ohne Leistung kein Lohn“ sieht das deutsche Arbeitsrecht aber diverse Ausnahmen vor, z. B. im Bundesurlaubsgesetz für Zeiten des bezahlten Erholungsurlaubs, nach dem Mutterschutzgesetz für Zeiten des Mutterschutzes oder etwa nach den Regelungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit.

 

Die Ankündigung einer Erkrankung, die im Zeitpunkt der Ankündigung nicht besteht, um den Arbeitgeber unter Druck zu setzen, stellt laut Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung dar. Hat der Arbeitgeber ernsthafte Zweifel an einer AU-Bescheinigung, dann kann er jederzeit den Medizinischen Dienst der Krankenkassen einschalten, um eine Einzelfallbegutachtung vornehmen zu lassen.

 

Obschon der Arbeitnehmer während einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit keine Arbeitsleistung erbringen kann, ist der Arbeitgeber für die Dauer von 42 Kalendertagen zur vollen Entgeltfortzahlung verpflichtet. Erst nach Ablauf dieser sechs Wochen ist der Arbeitgeber bei anhaltender Arbeitsunfähigkeit von der Entgeltfortzahlung befreit: Dann springt die Krankenkasse mit der Krankengeldzahlung ein.

AU-Bescheinigung = Arbeitsverbot?

Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) ist eine von dem behandelnden Arzt ausgestellte Prognoseentscheidung über den voraussichtlichen Krankheitszeitraum. Der Arbeitnehmer ist während dieser prognostizierten Arbeitsunfähigkeit nicht dazu verpflichtet, die Arbeit vollumfänglich niederzulegen. Vielmehr obliegt es ihm grundsätzlich selbst zu entscheiden, ob er ggf. auch schon vor Ablauf des prognostizierten Zeitraums wieder arbeitsfähig ist.

Welchen Beweiswert hat eine AU-Bescheinigung?

Wenn Arbeitnehmer krankheitsbedingt ihrer Hauptleistungspflicht aus dem Arbeitsverhältnis nicht nachkommen können, so sind sie – je nach arbeitsvertraglicher Ausgestaltung – spätestens nach dem dritten Kalendertag der Krankheit zur ärztlichen Feststellung der Krankheit verpflichtet. Die frühere „Nachweispflicht“ wurde bei gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern mit Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung (eAU) insofern ersetzt.

Der Beweiswert einer ärztlichen AU-Bescheinigung bzw. der ärztlichen Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit, dass damit auch tatsächlich eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorliegt, ist hoch. Die Erschütterung dieses Beweiswertes ist insofern schwierig, aber nicht unmöglich, wie auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem aktuellen Urteil (vom 13.12.2023, Az.: 5 AZR 137/23) festgestellt hat.

BAG zum Anzweifeln der Arbeitsunfähigkeit

Dem Urteil des BAG lag folgender Fall zugrunde: Ein Arbeitnehmer hatte eine AU-Bescheinigung vorgelegt, nach welcher er vom 02. bis zum 06. Mai 2022 ärztlich attestiert arbeitsunfähig war. Nach Erhalt der Bescheinigung kündigte der Arbeitgeber das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich und fristgemäß zum 31. Mai 2022. Hierauf reagierte der Arbeitnehmer mit weiteren AU-Bescheinigungen – zunächst bis zum 20. Mai 2022, dann weiter bis zum 31. Mai 2022.

Diese lückenlose Krankschreibung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nahm der Arbeitgeber zum Anlass, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum des Ausfalls zu verweigern. Nach den Umständen des Einzelfalls sah der Arbeitgeber ausreichende Indizien als gegeben an, die ihm zur Verweigerung der Entgeltfortzahlung berechtigten. Hiergegen wandte sich der Arbeitnehmer und klagte zunächst vor dem Arbeitsgericht Hildesheim auf die ausstehende Zahlung.

Sowohl in erster als auch in zweiter Instanz vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachen erhielt der Arbeitnehmer Recht, bis das BAG nun die Entscheidungen der Vorinstanzen aufhob. Unter einzelfallbezogener Würdigung der Gesamtumstände hätte hier vor allem der zeitliche Zusammenhang zwischen Ausspruch der Kündigung und Attestierung der Arbeitsunfähigkeit ausgereicht, um den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern, so das BAG. Dafür war es auch relevant, dass diese passgenau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses andauerte und der Kläger unmittelbar im Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnahm.

Das BAG verwies das Verfahren nun zurück an das LAG Niedersachsen. Dieses habe fälschlicherweise nicht die Erschütterung des Beweiswertes der AU-Bescheinigung angenommen. Das LAG soll nun prüfen, ob der Kläger tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war. Hierfür trägt der Kläger – der ehemalige Arbeitnehmer – die volle Darlegungs- und Beweislast.

Was bedeutet das Urteil für die Praxis?

Das Urteil bestätigt einmal mehr, dass der Beweiswert von AU-Bescheinigungen zwar sehr hoch ist, aber dennoch von Seiten des Arbeitgebers angezweifelt werden kann.

Aus Arbeitgebersicht muss allerdings auch klar sein: Die reinen Indizien können dazu führen, dass der Beweiswert an sich erst einmal erschüttert wird. Der Arbeitnehmer kann dann allerdings nachliefern, um den Beweis der Arbeitsunfähigkeit zu erbringen (etwa durch Benennung des behandelnden Arztes als Zeugen etc.). Davon hängt dann auch ab, ob der Arbeitgeber zur Entgeltfortzahlung aufgrund der Arbeitsunfähigkeit verpflichtet ist, oder ob er die Fehlzeiten als unentschuldigt werten kann, die damit nicht zu vergüten sind.

Drohung des Arbeitnehmers „… dann bin ich eben krank!“

Aus kündigungsrechtlicher Sicht sind solche Sachverhalte besonders relevant, in denen der Arbeitnehmer eine in der Zukunft liegende Arbeitsunfähigkeit als Drohmittel zur Durchsetzung seiner Interessen nutzt.

Im Jahr 2009 entschied das BAG mit Urteil vom 12. März 2009 (Az.: 2 AZR 251/07) hierzu den folgenden Fall, der sich so (oder so ähnlich) in der Praxis immer mal wieder ereignet: Der Kläger hatte für einen Brückentag Urlaub beantragt, der von Seiten der Beklagten im Rahmen eines persönlichen Gesprächs aus betrieblichen Gründen abgelehnt worden war. Noch am gleichen Tag suchte der Kläger einen Arzt auf, der ihm eine Arbeitsunfähigkeit attestierte. Die AU-Bescheinigung sah einen Zeitraum von zehn Tagen vor. Damit war auch der Brückentag umfasst, für den der Kläger ursprünglich Urlaub beantragt hatte. Laut Aussage der Bescheinigung kündigte die Beklagte fristlos aus wichtigem Grund: Nach dem Vortrag der Beklagten hatte der Kläger im Rahmen des persönlichen Gesprächs nach Urlaubsablehnung mitgeteilt, „dass er sich krankschreiben lasse“, was der Kläger im Verfahren dann allerdings bestritt.

Hierzu entschied das BAG in letzter Instanz, dass die Ankündigung einer Erkrankung, die im Zeitpunkt der Ankündigung nicht besteht, um den Arbeitgeber unter Druck zu setzen, einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung darstellt. Es ist dann unerheblich, wenn zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich eine Krankheit eintritt.

Einschaltung des Medizinisches Dienstes

Grundsätzlich hat der Arbeitgeber immer die Möglichkeit, den Medizinischen Dienst der Krankenkassen („MD“; bis 2021 mit „MDK“ abgekürzt) einzuschalten, wenn er ernsthafte Zweifel an einer Krankmeldung hat. Im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen kann dieser Einzelfallbegutachtungen bei Arbeitsunfähigkeit vornehmen. Anders als der Arbeitgeber selbst kann der MD hierfür auch Einblick in die festgestellten Diagnosen nehmen. In der Regel nimmt dies allerdings einige Zeit in Anspruch, binnen derer der Arbeitgeber i. d. R. längst entschieden haben muss, ob er die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall abrechnet oder sich einem erhöhten Risiko aussetzt, indem er diese stoppt.

Fazit

Der Beweiswert eines ärztlichen Attestes ist nach wie vor sehr hoch, Arbeitgeber sind jedoch nicht schutzlos ausgeliefert, wenn sie Zweifel an einer AU-Bescheinigung hegen. Es bleibt jedoch auch nach der jüngsten Rechtsprechung des BAG dabei, dass im Streitfall eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände zu erfolgen hat.

 

Jasmin Johanna Herbst, LL.M., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Mediatorin, 56068 Koblenz, E-Mail: jasmin.herbst@dr-sup.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2024; 49(07):12