Dr. Hubert Ortner
Wer hat den Schwarzen Peter beim TI-Murks?
Bild: AdobeStock_Tom Bayer
Es ruckelt und rumpelt, wie es sich für ein „digitales Entwicklungsland“ geziemt: Die Probleme beim E-Rezept-Abruf über die Telematik-Infrastruktur (TI) haben sich in den letzten Wochen derart zugespitzt, dass in der Branche nur drei Monate nach dem (gefühlt 192 Mal verschobenen) Einstieg schon wieder lautstark über einen Ausstieg nachgedacht wird. So forderte der Vorsitzende des Apothekerverbands Nordrhein, Thomas Preis, erst kürzlich: „Das jetzige System muss abgeschaltet werden“, weil die TI „schlichtweg schlecht konzipiert“ sei. Er sieht ganz klar die Gematik in der Verantwortung.
Das BMG als Mehrheitseigentümer der Gematik weist solche Vorwürfe – wen wundert es? – weit von sich: Man verweist auf Fehler von Vertragspartnern wie dem Trust Service-Anbieter Medisign, dessen OCSP-Responder Mitte März durch Totausfälle glänzte und damit den Blutdruck von tausenden Apothekeninhabern in ungesunde Bereiche hochschnellen ließ. Insofern gebe es laut BMG „keinen Grund dafür, das E-Rezept grundsätzlich in Frage zu stellen“. Wie beruhigend! Nichts funktioniert, die Vor-Ort-Apotheken müssen ihre Kunden scharenweise wieder wegschicken, und das BMG erklärt sich für nicht zuständig.
Doch wie steht es tatsächlich um die Verantwortung für eine funktionierende TI? Wer haftet für die Schäden, die durch Ausfälle entstehen? Spricht man mit Insidern, dann sehen diese einen grundlegenden „Konstruktionsfehler“ im System, der jetzt voll durchschlägt: Es fehlt an einem Prozess-Gesamtverantwortlichen, der die „Ende-zu-Ende-Verantwortung“ für alle TI-Services trägt. Die Gematik versteht sich zwar als TI-Betriebsverantwortliche auf operativer Ebene und steht auch jederzeit mit klugen Ratschlägen parat. Die Verantwortung für den Gesamtprozess weist man jedoch weit von sich.
Systemfehler lässt TI- Geschädigte im Regen stehen
In der Tat ist der haftungstechnisch entscheidende Punkt – die „Ende-zu-Ende-Verantwortung“ für den E-Rezept-Gesamtprozess – gesetzlich nicht klar geregelt. So sind in den Gesetzen rund um die TI, insbesondere in den §§ 306 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) V, keine speziellen Regelungen bezüglich der Haftung und etwaiger Schadensersatzansprüche enthalten. Damit müssten „TI-Geschädigte“ (z. B. Apotheker, die aufgrund von TI-Störungen nachweislich Kunden verloren haben) im Falle einer Klage auf die schadensrechtlichen Grundsätze des Bürgerlichen Gesetzbuches (§§ 280 ff. BGB) zurückgreifen (vgl. dazu auch AWA 7/2024, S. 14 f.).
Dem BMG diese fehlende Haftungsregelung als Schlampigkeit auszulegen, wäre naiv. Dahinter steckt ganz offensichtlich Kalkül: Indem die entscheidende Frage nach der Gesamthaftung nicht klar geregelt ist, haben es Geschädigte ungleich schwerer, ihre berechtigten Schadensersatzansprüche gerichtlich durchzusetzen. Und das „Schwarzer Peter“-Spiel von BMG, Gematik und den Herstellern der TI-Komponenten kann genauso so munter weitergehen wie vor der Übernahme der 51 % Mehrheit an der Gematik durch das BMG.
Von den Häuslebauern lernen
Wenn man als „Häuslebauer“ (schwäbisch für Bauherr) schlüsselfertig baut und Probleme mit undichten Wasserleitungen, Rissen im Mauerwerk oder schlecht isolierten Fenstern hat, dann ist ein Generalunternehmer verantwortlich, dass diese Mängel behoben werden, und kann ggf. in Regress genommen werden. Analog dazu ist es mehr als überfällig, dass auch die Gematik im (haftungs-)rechtlichen Sinne zum „TI-Generalunternehmer“ gemacht wird! Und damit endlich Verantwortung für den Murks übernimmt, den sie beim E-Rezept schon angerichtet hat bzw. bei anderen Anwendungen womöglich noch anrichten wird. Ob dieser im Einzelfall von der Gematik selbst oder einem beauftragten Drittunternehmen verursacht wurde, ist für die Geschädigten genauso irrelevant wie für den Häuslebauer die Frage, welcher Handwerker denn nun die undichten Leitungen verlegt hat. Beide haben einen Anspruch auf eine mängelfreie Leistung – in Form eines bezugsfertigen Hauses oder eines funktionierenden E-Rezept-Workflows. Wobei der Bauherr seinen Generalunternehmer wenigstens noch selbst aussuchen konnte. Apotheker und Ärzte haben den „TI-Murks“ zwangsverordnet bekommen und sollen jetzt auch noch auf dem Schaden sitzenbleiben. Das ist erbärmlich!
Dr. Hubert Ortner, Biochemiker, Chefredakteur AWA – APOTHEKE & WIRTSCHAFT, 70191 Stuttgart, E-Mail: hortner@dav-medien.de
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2024; 49(08):9-9