Prof. Dr. Reinhard Herzog
Wenn die Politik nicht gegensteuert, dann droht in den nächsten 15 Jahren eine regelrechte Explosion der Sozialausgaben – selbst Werte von 45 bis 50 % sind in Reichweite... (© AdobeStock/Infinite Gallery)
Prognosen haben eins gemein: Sie sind regelhaft falsch – es fragt sich nur, wie groß der Fehler ist. Dennoch lassen sich Trends absehen, wenn nicht irgendwelche „schwarzen Schwäne“ alles über den Haufen werfen. Und so geistern Beiträge für die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) um die 20 % bis 2030 durch die Gazetten, statt gut 16 % heute. Für 2035 prognostiziert Professor Raffelhüschen aus Freiburg – u. a. ein bekannter Experte für die „immanente Verschuldung“ eines Landes aus ungedeckten Sozialversprechungen – bereits 22 %.
Der Grund ist einfach: Lahmt die Konjunktur und wächst damit die Beitragsbasis nicht mehr wie bisher, während gleichzeitig die Kosten um mindestens 4 % bis 5 % jährlich oder auch mal mehr zunehmen, müssen logischerweise die Abgaben des Einzelnen steigen. Allein die Forderung nach 12 € Rx-Packungshonorar würde zu knapp 1 % Kostenplus beitragen, oder durchschnittlich gut 45 € Mehrbeitrag pro GKV-Mitglied und Jahr. Jeder mag seine guten Gründe für mehr Geld haben (und wir haben sehr viele Berufsgruppen im Gesundheitssystem, noch weit bedeutendere als die Apotheken, und alle möchten sie mehr) – unter dem Strich wird es dann eben empfindlich teurer.
Die Kosten der Pflegeversicherungen, inzwischen sind das allein in der gesetzlichen Pflegeversicherung gut 60 Milliarden Euro jährlich, laufen sich erst richtig warm. Demografischer Wandel und stets höhere Leistungen lassen grüßen. Will man sie auch noch zur „Vollkasko-Versicherung“ mit minimaler Eigenbeteiligung ausbauen, gleichzeitig die Pflegekräfte besser entlohnen, und obenauf die Standards und Vorgabendichte weiter hochschrauben, darf man sich über völlig aus dem Ruder laufende Kosten nicht wundern. Wir werden so in nur einigen Jahren Beitragsmarken von 5%, 6% und mehr reißen.
Kommen wir zur gesetzlichen Rentenversicherung (DRV). Die Pensionen, welche insbesondere die Haushalte der Bundesländer vor größte Probleme stellen werden, lassen wir mal außen vor, ebenso das Thema Versorgungswerke. Die DRV lebt bekanntermaßen von der Hand in den Mund ohne nennenswerte Rücklagen, hängt also wie die anderen Sozialversicherungen an der Lohnsumme. Der ehrliche Beitragssatz müsste schon heute eher bei 25 % denn 18,6 % stehen. Das kaschiert nur der Bundeszuschuss von rund 110 Mrd. €, selbst wenn dieser nicht zuletzt „versicherungsfremde Leistungen“ wie Reha oder „Mütterrenten“ ausgleichen soll. Soll dieser Zuschuss nicht immer weiter abheben, sind kräftige Beitragssatzsteigerungen unvermeidlich. Die 20 %-Marke werden wir zügig überschreiten. Und zu guter Letzt ist da noch die Arbeitslosenversicherung mit eher mickrigen 2,6 % Beitragssatz. Trotz Fast-Vollbeschäftigung (ob das so bleibt, ist keineswegs ausgemacht, Demografie hin oder her, denn: It’s the economy, stupid …) wird kaum ein Politiker es wagen, diese ganz abzuschaffen. Wir lassen an dieser Stelle solche Dinge wie Berufsgenossenschaften oder Umlagen für Krankheit und Schwangerschaft unter den Tisch fallen, die auch nicht billiger werden und nur die Arbeitgeber treffen. Doch im Hinterkopf kommen die eben auf die Lohnsumme obenauf.
Und nun zählen wir mal die (künftigen) Beitragssätze nur der gesetzlichen Pflichtversicherungen zusammen. Über die 40 %-Marke brauchen wir schon heute nicht mehr zu reden. 45 % sind binnen 5 bis 10 Jahren in Reichweite, die 50 %-Marke ist zur Spitze des Babyboomer-Rentenbergs in den späteren 2030er Jahren keineswegs sehr viel weiter weg.
Na und? Wir sind doch eine reiche Gesellschaft! Abgesehen davon, dass Deutschland nie sonderlich reich, sondern vor allem leistungsfähig war, müssen wir das große Zukunftsbild sehen. Da stehen enorme Zukunftsaufgaben an – vom Klimawandel über die Migration bis zum Megathema Krieg und Frieden, daneben das Halten der oberen Medaillenplätze, nicht nur bei Olympia, sondern bei Bildung und Technologie. Dafür wird es zumindest übergangsweise eher mehr als weniger Steuern brauchen. Kommen dann noch spürbar höhere Sozialabgaben hinzu, sind wir nicht mehr weit von einer „Taschengeld-Gesellschaft“ entfernt. Und von diesem „Taschengeld“ sollen rasant gestiegene Wohn- und Lebenshaltungskosten bestritten werden. Die Bruchlinien einer solchen Gesellschaft werden unzweifelhaft tiefer.
Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2024; 49(17):19-19