Arzneiverordnungs-Report 2010

Eine Frage der Perspektive


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Arzneimittelkosten steigen! 453 Mio. Rezepte mit 786 Mio. Verordnungen zeichnen ein prä­zises Abbild des GKV-Markts. Doch in dem immer dichter werdenden Regulierungs- und Verrechnungsgestrüpp sind die Ausgaben auf der einen nicht unbedingt die Einnahmen auf der anderen Seite.

Ein Umsatzzuwachs von 4,8% auf 32,4 Mrd. € bei den Arz­nei­mittelausgaben der GKV (ohne Impf­kosten) – das lässt sich sehen im Krisenjahr 2009, in dem andere Branchen ho­he Einbußen verzeichneten. Schaut man näher hin, relativiert sich hingegen vieles. So beträgt der „GKV-Gesamtkuchen“ im Seg­ment Arznei- und Hilfsmittel aus Apotheken inklusive Versandhandel 2009 sogar 34,6 Mrd. € – ein Plus von 6,1% gegenüber 2008. Hierin enthalten sind jedoch sämtliche Zuzahlungen, Rabatte, Hersteller­abschläge und die Mehrwertsteuer, daneben Nicht-Fertigarzneimittel sowie der Praxisbedarf mit einer beträchtlichen Menge an – zwischenzeitlich wieder rückläufigen – Impfstoffen. Schneiden wir diesen „Kuchen“ also einmal auf – aus der Perspektive der GKV und aus der Sichtweise der Apotheken.

Aus Krankenkassensicht sind von diesen 34,6 Mrd. € brutto 1.843 Mio € (+0,1% gegen­über 2008) Eigenanteile der Patienten abzuziehen, wei­terhin 1.463 Mio. € Apothe­­‑ ken­abschläge (+4,3%) sowie 875 Mio. € Herstellerrabatte (+0,7%) nach § 130a SGB V (also noch ohne Rabattverträge!). Das macht für die Krankenkassen 30,4 Mrd. €. Da die Krankenkassen als „Endkunden“ keine Mehrwertsteuer abziehen können, wird diese, immerhin gut 5 Mrd. €, letztlich von den Beitragszahlern getra­gen. Der hochgelobte Staatszuschuss an die GKV relativiert sich damit. Am Rande er­wähnt werden die 846 Mio. €, die durch die Rabattverträge 2009 erwirtschaftet wurden (= rund 39.000 € je Apotheke); dieser Betrag ist ebenfalls abzuziehen, damit sinkt die tatsächliche Krankenkassenbelastung auf rund 29,5 Mrd. €.

Der für die Auswertungen im Arzneiverordnungs-Report he­rangezogene GKV-Fertigarzneimittelumsatz ist um Praxisbedarf und Nicht-Fertig­arz­nei­mittel bereinigt, enthält aber noch alle Rabatte und Patientenzuzahlungen sowie die Mehrwertsteuer. Er lag 2009 bei 28,5 Mrd. € (+6,8%).

Der (unkorrigierte) Bruttowert je Fertigarzneimittelverordnung ist weiter gestiegen, um 3,7% auf nunmehr 45,51 €, gegenüber noch 15,98 € 1993. Netto auf Apothekenebene liegt der Packungswert bei rund 36,50 €. Ursächlich hierfür sind nach wie vor insbeson­dere teure patentgeschützte Präparate und Innovationen.



Für die Apotheke muss eine andere Rechnung aufgemacht werden. Von obigem Gesamtbetrag in Höhe von 34,6 Mrd. € sind die Apothekenabschläge (1.463 Mio. €) abzuziehen; wei­terhin ist die Mehrwertsteuer (rund 5,2 Mrd. €) herauszurechnen. Damit verbleiben netto rund 27,9 Mrd. € inklusive vereinnahm­ter Zuzahlun­gen, Praxisbedarf, Rezepturen und Nicht-Arzneimittel, das sind knapp 6% mehr als 2008. Der reine Fer­tig­arz­nei­mit­tel­anteil – ohne Praxisbedarf – liegt bei etwa 22,7 Mrd. € netto, d.h. statistisch 1,06 Mio. € je Apotheke.

Bei den Nicht-Fertigarzneimitteln fallen 1,71 Mrd. € für Zytostatika-Rezepturen (+9,9%) mit einem Durchschnittswert von 673 € sowie 744 Mio. € für individuell hergestellte paren­terale Lösungen (+27%) mit einem Verordnungswert von 956 € auf – alles Bruttowerte. Dieser Umsatz – netto noch rund 2 Mrd. € – geht jedoch an den klassischen Offizinapotheken vorbei und wird im Wesentlichen von wenigen hundert spezialisierten Apotheken erwirtschaftet.

In-vitro-Diagnostika (v.a. Teststreifen), sonstige Hilfsmittel und „klassische“ Rezepturen sind dagegen teilweise sogar rückläufig und absolut von eher geringer Bedeutung: 713 Mio. € Diagnostika (+6,3%), 546 Mio. € Hilfsmittel (-10,5%) sowie 216 Mio. € „klassische“ Rezepturen (-0,8%).

Seit Jahren findet eine stete Verschiebung zu größeren Packungen

Was verschreiben die Ärzte?

Jedes Jahr aufschlussreich ist der Blick auf die Verordnungswerte der einzelnen Arztgruppen. Erstmals in diesem Jahr erfolgt eine weitaus feinere Aufschlüsselung der Fachgruppen, was durch die seit Mitte 2008 lebenslang gültige Arztnummer ermöglicht wurde (siehe Tabelle auf Seite 7). Während bei den Allgemeinärzten – die alleine für fast 40% des Verordnungsumsatzes stehen – sowie bei den meisten klassischen Fachärzten keine wesentlichen Veränderungen eingetreten sind, sorgen einige Spezialärzte für Erstaunen.

Dass Onkologen viel und hochpreisig verordnen (wo­‑ bei Individualrezepturen hier nicht enthalten sind, das sind noch einmal rund 2,1 Mio. € je Arzt allein für Zytostatika), verwundert kaum. Wohl aber überraschen die Nervenärzte und Neurologen, die mehr als eine halbe Million Euro Verordnungsumsatz aufweisen, während die davon jetzt ab­gegrenzten Psychiater bei 185.000 € landen. Zusammengefasst lagen diese Ärzte 2008 noch bei 374.000 €. Neben dem fachgruppenspezifischen Zuwachs (u.a. Multiple-Skle­rose-Therapie) ist diese jetzt vorgenommene Aufgliederung dafür ursächlich.

Gleichfalls für hohe Umsätze sorgen die Nephrologen und Pneumologen. Die absolut verordneten Packungszahlen sind jedoch eher gering, die Packungswerte mit 80 € bis 100 € brutto dafür hoch. Was Patientenfrequenz und Ver­ordnungszahl angeht, bleiben hausärztlich tätige Internisten bzw. Hausärzte für eine Apotheke die besten Partner, gefolgt von Kinderärzten.

Grundsätzlich handelt es sich hier um Bruttowerte vor Abzug von Rabatten und Mehrwertsteuer. Nicht enthalten sind Sprechstundenbedarf, Nicht-Arzneimittel und Rezepturen sowie sämtliche Privatverordnungen. Rechnet man dies auf, dann stellen die an­gege­be­nen GKV-Bruttowerte meist in etwa den tatsächli­chen Gesamtnettoumsatz dar, oft ist der Realumsatz noch höher; bei den Gynäkologen oder den Hautärzten liegen die realen Umsätze sogar ganz erheblich über diesen Tabellenwerten.

Die individuellen Praxisunterschiede können jedoch sehr groß sein, sodass eine gut frequentierte Hautarztpraxis womöglich „rentabler“ ist als eine schlecht geführte Internistenpraxis.

Einsparvorschläge

Jedes Jahr unterbreiten die Autoren des Arzneiverordnungs-Reports detaillierte Ein­sparvorschläge. So werden die­­ses Mal genannt: 1,3 Mrd. € durch Verordnung der jeweils günstigsten generikafähigen Wirkstoffe, 2,2 Mrd. € im Bereich der Analogpräparate durch generische und Wirkstoffsubstitution sowie knapp 0,6 Mrd. € durch den rationa­len Ersatz umstrittener Arzneimittel – macht in der Summe 4,1 Mrd. €.

Preissenkungen bei den patentgeschützten Präparaten könnten schnell etliche weite­re Milliarden einbringen. Deren Umsatzanteil hat sich nämlich im Zeitraum von 1993 bis 2009 von 10,8% auf 46,4% dramatisch gesteigert – was erklärt, warum die politischen Maßnahmen künftig dort verstärkt ansetzen werden.

Ob hingegen die in den Raum gestellte Gesamteinsparsumme von möglichen 9,4 Mrd. € – rund 30%! – je realisiert werden wird, darf getrost be­zweifelt werden. Im Übri­gen geht es dabei vor allem um Preise und die Sub­stitution von zu teuren Präparaten – der Bedarf an sich und damit die Packungszahlen sind ziemlich unstrittig ; das ist zu­min­dest ein Lichtblick für die Apo­theke.

Abschließend ist hervorzu­heben, dass der Arzneiver­ordnungs-Report ebenso ein pharmakologisches Kompendium der aktuellen Arzneimittel-Therapiestandards ist. Insoweit ist er immer wieder lesenswert – selbst wenn auch er jährlich teurer wird: in diesem Jahr wieder um 2 € beziehungsweise 4,2%. Es sind eben nicht nur immer die Arzneimittel, die zulegen...

Im Buchhandel ist der im Springer Verlag, Heidelberg, erschienene Arzneiverordnungs-Report zum Preis von 49,95 € erhältlich.

Dr. Reinhard Herzog,
Apotheker, 72076 Tübingen,
E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2010; 35(19):5-5