Betriebsführung

Apotheke und Innovationen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Rolle der Apotheke ist gesetzlich vorgegeben: die ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln. Der Gesundheitsmarkt entwickelt sich jedoch in verschiedenste Richtungen weiter – wie kann die Apotheke beim Thema Innovationen mithalten?

Heute entfallen im Schnitt gut 90% des Umsatzes der Apotheken auf Arzneimittel. Die Nicht-Arzneimittel lassen sich überwiegend den Segmenten Vitamine bzw. Nahrungsergän­zung, Kosmetik, gesundheitsbezogene „Bedarfsgegenstände“ (wie Zahn- oder Fußpflege) sowie Verbandstoffe und Medizinprodukte zuordnen.

In diesen klassischen Segmenten haben wir es mit vielen Innovationen (häufig aber eher nur „Novitäten“) zu tun. Mehrere Tausend neue Produkte kommen Jahr für Jahr auf den Markt und man muss genau hinsehen, wie man mit dieser Vielfalt umgeht; oft wird nur „alter Wein in neuen Schläuchen“ angeboten. Die rasanten Entwicklungen in der Elektronik, Bio- und Gentechnik sowie Informationstechnologie eröffnen jedoch ganz neue Anwendungen:

  • Die Vielfalt an Test- und Dia­gnose­werk­zeu­gen für den Patienten zu Hause wächst stetig – von „Klassikern“ wie hochtechnisierten Blutdruckmessern über günstige Handheld-EKG-Ge­räte oder funktionsstar­‑ ke Fitnessuhren bis hin zu Tests zur Ermittlung von individuellen Krankheitsrisi­ken, die man in speziellen Laboren beauftragen kann. Ein Zukunftsthema: „Health Risk Management“, d.h. Erkennung und Quantifizierung individueller Gesundheitsrisiken anhand standardisierter Tests. Dies schlägt die Brücke zu einer sinnvollen Prävention, ebenfalls für die Apotheken hochinteressant. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass Tests wie z.B. der PROCAM (zur Ermittlung von Herz-Kreislauf-Risiken) nur wenig bekannt sind.
  • Vom „Health Risk Management“ ist es nicht weit zur Telemedizin und dem Ambient Assisted Living. Gesundheits-Handy mit Notruffunktion, intelligente sen­sorbestückte Textilien oder zahlreiche Assistenztechniken – angesichts von rund 1,5 Mio. Pflegebedürftigen, die zu Hause leben, kommt dem Thema „Monitoring“ und Vernetzung mit Gesundheitsdienstleistern stei­gende Bedeutung zu.
  • Das Thema Wissensvermittlung verschiebt sich immer mehr in Richtung Internet und (zunehmend internetbasierte) Soft­ware­pro­gramme sowie zu den modernen „Apps“.
  • Vergessen wir nicht die Therapie: Zahlreiche Geräte wie Anti-Depressions-Farblampen, Luftreiniger, Inhalatoren, Speziallampen zur Verbesserung des Hautbildes etc. gehen heute über den „virtuellen Ladentisch“ im Internet (z.B. www.wellango.de ). Die Apotheke profitiert bislang jedoch kaum von diesem Boom.

Nicht alle Innovationen sind technikgetrieben. So ist auch im Dienstleistungssektor eine gewisse Aufbruchsstimmung mit der Gefahr der Verzettelung und Spaltung des Marktes in viele kleine Interessengruppen zu sehen. Stichworte wie Verblisterung, Herstellung parenteraler Rezepturen, sonstige Individualrezepturen, neue Konzepte zur Chronikerversorgung „bis ans Krankenbett“, die u.a. von bestimmten Großhandelskreisen forciert werden, oder Versorgung spezieller teurer Patientengruppen mögen an dieser Stelle genügen. Diese neuen Dienstleistungen könnten eine weitere Zukunftsoption bilden – aber wie viele Apotheken kann man auf diesem arbeitsintensiven, oft Spezial-Know-how erfordernden Weg mitnehmen?

Basiswissen

Der praktische Alltag wird aber heute noch überwiegend durch die zahlreichen klassi­schen Produkt-Neueinführun­gen bei Arzneimitteln und im Randsortiment bestimmt. Bereits beim Umgang mit dieser Produktflut haben viele Apotheken ihre liebe Not, und das nicht ohne Grund. Die große Mehrheit der „Novitäten“ insbesondere im OTC- und Randsortiment erfüllt nämlich nicht die Erwartungen. Manchem Neuprodukt gelingt zumin­dest ein kurzer Höhenflug, doch nur ganz wenige wachsen langfristig zu einer stabilen Marke mit einem berechenbaren Absatz heran. In der Konsequenz „vergammelt“ immer noch vieles in den Apotheken, bindet Kapital und entpuppt sich als Ladenhüter. Der Umgang mit Neuaufnahmen in das Warenlager sollte deshalb klaren Regeln folgen.

Verordnete Produkte: Rechtfertigen eine Neinverkaufs-Analyse, die Umstellung des Verordnungsverhaltens wichtiger Ärzte oder eine Rabattvertragseinstufung die Bevorratung mit dem Präparat? Ein wichtiges Entscheidungskriterium ist dabei auch die kompetitive Lage vor Ort: Sind Konkurrenzapotheken in der Nähe, sodass viele Kunden bei Nicht-Lieferfähigkeit die Apotheke verlassen und selbst durch einen Botendienst nicht zu überzeugen sind, oder lässt sich die Mehrheit der Kunden zur Zustellung oder gar einem Wiederkommen bewegen?

Kalkulieren Sie dazu die ehrlichen Kosten eines Botendienstes bzw. von „Talern“ und anderen Vorteilen, die Sie bei Nachlieferungen gewähren. Nicht selten kostet die Auslieferung einer einzelnen Packung statistisch mehrere Euros. Dagegenzustellen sind die Kosten einer Bevorratung: das sind Warenbewirtschaftungs-, Lager- und Kapitalbindungskosten in Höhe von etwa 1,5% bis 2% pro Monat, bezogen auf den Einkaufswert, sowie das Verfallrisiko. Vielfach ist heute zudem eine eng gesetzte Retourenquote des Großhandels von 2,5% oder 3% ein Kriterium, bei deren Überschreitung Abzüge in der Größenordnung von 30% bei Rückgabe drohen.

Bei Direkteinkäufen ist die Retourenannahme seitens der Industrie oft das geringere Problem (Ausnahmen bestätigen die Regel, insbesondere bei etlichen teuren Präparaten), doch ist der Arbeitsaufwand hier oft höher und bei Kleinbeträgen grenzwertig.

Zwischenfazit: Für die Lager­aufnahme sollten Sie eine Arbeitsanweisung entwickeln, wer bis zu welchem Wert in welchem Umfang etwas „herlegen“ darf. Die Kriterien sind individuell unterschiedlich, abhängig von Umsatzstruktur, Konkurrenzlage und Servicelevel (z.B. Botendienst zu welchen Kosten). Eine exakte Nachverfolgung der Neuanlagen versteht sich von selbst, inklusive „Ausmisten“, falls das Produkt z.B. drei bis sechs Monate nicht gelaufen ist.

OTC- und Randsortiment: Hier ist zwischen echten Neuerungen und „unechten“, d.h. schon lange bekannten, aber für die Apotheke neu in Betracht kommenden Produkten wie z.B. einer weiteren Kos­metiklinie, zu unterscheiden. Grundsätzlich sollte Folgendes beachtet werden:

  • Wie hoch ist die Kapitalbindung bzw. eine eventuelle Vorausinvestition?
  • Welcher Rohertrag winkt im besten Fall, d.h. bei vollständigem Abverkauf in einem vorgegebenen Zeitraum? Oft ist dieser erschreckend gering, sodass sich die Frage stellt, ob man sich für 50 € oder 100 € maximal erzielbaren Rohertrag wirklich den HV-Tisch oder seine besten Plätze zustellt...
  • Erweitert die Neuheit das Produktspektrum und zieht neue Kunden an oder substituiert sie bereits vorhandene Produkte? Wenn es dumm läuft, kann ein weniger rentables neues Produkt ein gut eingeführtes ertragsstarkes verdrängen. Dieser Aspekt – wo A steht, kann nicht mehr B stehen – wird häufig, auch bei Platzierungsfragen, übersehen!
  • Der wichtige Blick aus der Kundenperspektive: Welche Vorteile bietet das Produkt überhaupt Ihren Kunden? Diese so wichtige Kundensicht wird häufig zu wenig beachtet.
  • Die „Basics“ wie Einkaufs-, Retouren- und Zahlungsbedingungen, Werbeunterstützung, Proben etc. sind selbstredend wieder sorgfältig zu bewerten.
  • Erste Ansätze gehen dahin, ähnlich wie in anderen Einzelhandelsbranchen Einlistungs- und Präsentationsgebühren zu verlangen. Oft schöpfen jedoch Einkaufsverbünde diesen Rahm ab, wenn sie für eine größere Zahl von Apotheken verhandeln. Apothekenrechtlich kann es kritisch werden, wenn die feste Vermietung von Regalmetern als Eingriff in die Unabhängigkeit der Beratung gesehen werden könnte.

Umgang mit echten Innovationen

Doch wie steht es nun um echte Neuigkeiten, die bisher in den Apotheken noch nicht etabliert sind und für die es kaum Erfahrungswerte gibt? Sollten Sie z.B. bei einer Lampe gegen Winterdepression, die Ihnen gefällt, aber nicht ganz billig ist, mit 20 Stück ins Obligo gehen? Oder 10 Hand-EKG-Geräte an Lager nehmen? Nur die wenigsten würden hier zustimmen, vielleicht noch am ehesten extrem starke Lauflagen-Apotheken oder solche mit einem florierenden Versandgeschäft. Also doch nichts mit Innovation und Sortimentserweiterung, wenn Geld auf dem Spiel steht? Nun, Neuerungen bedeuten immer auch Risiko! Wüsste man alles im Vorhinein, wäre es eben keine Innovation...

Heute greifen Sie auf bewährte Einkaufsquellen zurück. Bei der Einführung von echten Neuigkeiten, noch vor der Konkurrenz, müssen Sie hingegen selbst aktiv werden: Produktrecherche betreiben, Internet und Kataloge durchstöbern, Messen besuchen, Geräte testen, die Marktchancen auf Grundlage Ihrer Kundenprofile einschätzen und zu­verlässige Bezugsquellen finden. Das umreißt die grundlegende Problematik, an der Sie nicht vorbeikommen. Ko­ope­rationen könnten hier künftig hilfreich sein, wenn sie die Rolle eines globalen Beschaffers annehmen.

Bei neuen Dienstleistungen verhält es sich ähnlich, bisweilen müssen Sie sogar ganz beträchtlich in Vorleistung gehen wie bei verschiedenen Wellness-Angeboten (Räumlichkeiten) oder bei Individualrezepturen (bei denen Sie ein größeres Sortiment an „Bausteinen“ vorhalten müssen).

Entschärfen lässt sich diese Problematik gleichwohl:

  • Machen Sie Markt- und Akzeptanztests ! Durch Kundenbefragungen, die sorgfältige Analyse bereits vorhandener Konkurrenz sowie überschlägige Marktpotenzialabschätzungen (Bei-spiel: Wie viele Depressive gibt es in meiner Kundschaft, wie viele davon würden eine „Lichtdusche“ kaufen?) können Sie Enttäuschungen vermeiden.
  • Betrachten Sie Ihren Wirkungskreis. Auf dem Land erschöpft sich dieser schnell, in der Stadt können Sie mit Marketing größere Kreise ziehen, mit einem Internetshop erweitern sich Ihre Möglichkeiten noch einmal erheblich.
  • Bei teureren Produkten lässt sich vieles als Agentur- oder Kataloggeschäft gestalten. Sie haben alle wichtigen Daten, Prospekte, vielleicht selbst erstellte Handzettel und Bilder da, ggf. ein Demo-Produkt, und bei Kundeninteresse wird der Artikel individuell bestellt. Gebräuchlich sind Präsentationen und Videos auf dem Rechner, die vorgeführt werden können. Gelingt es, vorteilhafte Rückgabebedingungen auszuhandeln, kann das ein funktionierendes Modell werden. Sie genießen meist mehr Vertrauen als ein anonymer Internetshop. Voraussetzung ist allerdings gute Fachkenntnis und Beratungsqualität gerade bei diesen „virtuellen“ Produkten.

Neues aufzutun ist also nicht ganz leicht und risikobehaftet. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Mit Bedacht und klugen Ansätzen lassen sich die Risiken beherrschen. Nicht vergessen sollten Sie den möglichen Image-Effekt: Eine Apotheke, die mit der Zeit geht und dieser bisweilen voraus ist, bei der man Dinge bekommt, die es bei der Konkurrenz nicht gibt, und bei der man angesichts der Technik auch mal ins Staunen gerät – das lässt sich schwer in Geld ausdrücken, ist aber bei der heutigen Konkurrenzlage nicht zu unterschätzen.

Dr. Reinhard Herzog,
Apotheker, 72076 Tübingen,
E-Mail:Heilpharm.andmore@t-online.de

Checkliste

Eine Vorlage zur Entscheidung über die Lageraufnahme zum Download finden Sie hier

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2011; 36(12):5-5