Betriebsführung

Muss alles immer hundertprozentig sein?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Pharmazeuten zeichnen sich gerne durch Detailgenauigkeit, präzises und vorschriftengerechtes Arbeiten sowie eine Abneigung gegen Fehler aus. Doch hundertprozentig ist nun einmal nichts, und eine zu große Pingeligkeit kann den Betriebsalltag erheblich verkomplizieren.

Pharmazeuten sind einem Bonmot zufolge ja nicht zuletzt deshalb meist so genau und kleinlich, weil sie quer durch Studium und Berufsalltag oft mit sehr kleinen, exakt abgewogenen Mengen hantieren müssen. Da ist etwas dran.

Dennoch gilt es eben zu differenzieren. Zum einen gibt es keine totale Sicherheit, keine hundertprozentige Genauigkeit oder null Fehler. Zum anderen ist es gerade angesichts unserer heute vielfach erreichten hohen Standards wirtschaftlich häufig nicht sinnvoll, diese immer noch weiter zu steigern – das ist das Phänomen des abnehmenden Grenznutzens.

Aus Mücken werden

Trotzdem wird das an teils grotesken Stellen immer wieder versucht, auch auf Druck des Gesetzgebers. Aus Mücken werden Elefanten gemacht, was nicht selten für Verwunderung und Unverständnis bei anderen Beteiligten sorgt. Dennoch ist das eine beliebte Methode geworden, um das Wirtschaftswachstum zu beflügeln und seine eigene Bedeutung zu steigern.

In der praktischen Betriebsführung kommt es jedoch darauf an, risiko- und aufwandsadäquat zu priorisieren und die richtige Maschenweite für die „Risiko- und Genauigkeitssiebe“ zu finden.

Ein vernünftiges Aufwands-Nutzen-Verhältnis bedeutet auch, Fehler, Nachlässigkeiten und Ungenauigkeiten zuzulassen – aber eben nur an den richtigen unkritischen Stellen! Andererseits gilt es, an kritischen Punkten womöglich genauer als heute hinzuschauen, wenn man diese denn erst einmal als solche erkannt hat.

100% – Fehlanzeige!

Trotz „Null-Fehler-Prinzip“ und dem Anspruch, stets das Beste zu geben und alles Menschenmögliche zu tun: Zu hundert Prozent reicht es eben nie ganz!

Zerbrechlich ist bei der Betrachtung des Fast-Hundertprozentigen das Leben, und so werden Sie selbst, der vielleicht immer alles richtig machen will, im mittleren Lebensalter nur mit 99,999%iger Wahrscheinlichkeit morgen überhaupt noch am Leben sein – ein Risiko von 1:100.000. Sind Sie erst einmal 90, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf etwa 99,95% bzw. erhöht sich das tägliche Ablebensrisiko auf rund 1:2.000.

Obwohl beispielsweise industrielle Sterilprozesse zu den bestgeführten Prozessen überhaupt gehören, ist statistisch etwa eine von einer Million sterilisierter Ampullen verkeimt (bei aseptischen Prozessen ohne Endsterilisation ist das Risiko um mindestens eine Größenordnung höher). Noch etwas geringer ist das Risiko, hierzulande bei einer Bluttransfusion mit HIV infiziert zu werden, aber es existiert.

Bei jährlich etwa 75.000 bis 100.000 verkauften Packungen einer durchschnittlichen Apotheke wäre es beinahe ein Wunder, wenn es keinerlei Falschabgaben gäbe. Die Frage ist vielmehr, wie gravierend der jeweilige Fehler ist: Hat er nur eine wirtschaftliche Bedeutung, beispielsweise infolge der Rabattverträge, oder ist er pharmazeutisch in unterschiedlichen Ausprägungsgraden relevant? Dabei hat im Übrigen sogar ein pharmazeutisch bedeutsamer Fauxpas wie beispielsweise eine falsche Stärke – auch falls nicht entdeckt – oft weniger gravierende Auswirkungen als befürchtet. Die Dosis-Wirkungs-Kurven „verzeihen“ einiges, wenn auch nicht alles, so wie nicht jeder selbst grobe Fahrfehler gleich zum Unfall führt.

Das ist schon lange bekannt und hat seinen Niederschlag im bekannten Heinrich’s Law gefunden: Hinter jedem Unfall oder schweren Zwischenfall steht eine vielfache Zahl an Beinahe-Unfällen. Diese Erkenntnisse haben übrigens Eingang in die Fehlermeldesysteme in der Luftfahrt oder in Kliniken gefunden (Critical Incident Reporting Systems, CIRS), in denen anonymisiert (!) kritische Vorkommnisse vor allem von den Beschäftigten gemeldet werden, um so die Fehlerkultur zu verbessern.

Solche Ansätze sind auch in der Apotheke erwägenswert: Eine Fehlerkultur entwickeln, bei der nicht der Schuldige gesucht und ihm der „Kopf gewaschen“ wird, sondern bei der Fehler als notwendiges Übel akzeptiert werden, denen man aber gleichwohl an den Kragen geht, indem man zumindest ihre Wiederholung verhindert („Lernkurven“).

Die Kosten-Nutzen-Frage

Gerade bei Maximal-Sicherheitsphilosophien stellen sich jedoch Kosten-Nutzen-Fragen besonders eindringlich. Um welchen meist exorbitanten Preis lassen sich bereits aufwendige und schon heute sehr sichere Prozesse weiter optimieren?

Sie können sich in viele Details und Sackgassen verrennen, doch ist es nicht sinnvoller, sich auf andere Problemfelder zu konzentrieren, wo teilweise mit weniger Aufwand viel mehr bewirkt werden kann? Anstatt beispielsweise immer mehr Zeit und Geld in Dinge wie die klassische Rezeptur und die Dokumentation wenig sicherheitskritischer Vorgänge zu stecken, lohnt einmal der Blick von „oben“ auf den Betrieb, um viel naheliegendere Optimierungsmöglichkeiten zu erschließen. Hier warten dann echte Schwachpunkte darauf, behoben zu werden, statt bereits Gutes nur noch etwas besser zu machen.

Das hat man in der Prozessindustrie schon länger erkannt und führt deshalb vorab umfassende Risikoanalysen durch, um überhaupt die Problemfelder und „Baustellen“ zu identifizieren und nicht zu viele Ressourcen zu speziell zu binden.

99% bis knapp 100%

Zwischen 99% und knapp 100% spielen sich viele Ereignisse des täglichen Lebens ab. Gute analytische Bestimmungen haben einen Fehler um 1%, teils etwas weniger, teils mehr. Wirk- und Hilfsstoffe wiegt man mit 1% bis 2% Genauigkeit ein, „reine“ Stoffe enthalten oft mindestens 99%.

Selbst die ach so exakte, centgenaue Betriebswirtschaft entpuppt sich als keineswegs hundertprozentig: Die Kasse stimmt vielfach im Bereich bis zu etwa 1% nicht aufgrund kassenwirksamer, täglich passierender Fehler aller Art. Eine Gewinnermittlung auf plus/minus 1% muss angesichts der Kompliziertheit des Steuersystems und der vielen Zuordnungsmöglichkeiten schon als genau gelten. Ähnliches gilt für die Berechnung vieler Kennzahlen.

Ist hier eine weitere Steigerung sinnvoll? In der Regel eher nicht! Die Standards sind meist ausreichend. Es lohnt genauso wenig, die Wägegenauigkeit für eine Rezeptur in den Promillebereich zu steigern, wie es sich nicht auszahlt, viel Aufhebens um einige Euro Kassendifferenz, den fehlenden 7,85-Euro-Beleg oder eine 12,50-Euro-Retoure zu machen. Solange dies Einzelfälle bleiben bzw. sich die Gesamtsummen in bestimmten Toleranzbereichen bewegen, kann man damit leben. Denken Sie an die Zeit, das Betriebsklima und die Arbeitsweise an sich: Zählen Erfolg und Kundenzufriedenheit oder steht Pfennigfuchserei und Vorschriften-Knechtschaft obenan? So etwas prägt den ganzen Betrieb!

Freilich wäre es auch nicht akzeptabel, nur auf die Einzelbeträge zu achten. Jeden Tag eine vermeintlich kleine Summe, aber eben zigmal, zu „verschlampen“, sprengt eben doch die Toleranzgrenzen.

Im deutlichen Promille- bis unteren Prozentbereich bewegen sich dagegen andere Risiken, bei denen vielleicht doch ein Nachdenken lohnt. So ist die jährliche Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Raubüberfalls in der Apotheke zu werden, im niedrigen Promillebereich anzusetzen, in Großstädten noch einiges höher. Die Wahrscheinlichkeit eines Einbruchs bzw. Einbruchsversuchs liegt angesichts von rund 1.000 entsprechenden Taten pro Jahr sogar schon klar im Prozentbereich.

Angesichts der gewaltigen Fortschritte bei unauffälligen elektronischen Überwachungstechniken, beispielsweise mit Aufschaltung auf das eigene Smartphone, und recht einfachen mechanischen Möglichkeiten der Erschwerung von Einbrüchen, lässt sich mit überschaubarem Aufwand eine erhebliche Steigerung der Sicherheit erzielen. Es ist daher fast verwunderlich, dass wir zwar teilweise verrückteste Detailvorschriften im Apothekenbetrieb haben, aber keine verbindlichen Vorgaben zur Einbruchs- und Überfallsicherheit.

Um 90%

Um die Marke von 90% herum spielt sich beispielsweise die Lieferfähigkeit ab, in gut sortierten Apotheken etwas höher, oftmals aber auch schlechter. Das heißt: Eine von zehn Artikelnachfragen kann nicht aus dem Lager heraus sofort befriedigt werden. Angesichts der Artikelvielfalt ist das aber ein lageabhängig akzeptabler Wert.

Eine Quote von gut 90% der Kunden, die rundum zufrieden oder gar außergewöhnlich begeistert sind, kann ebenfalls als Erfolg gewertet werden.

Die Pareto-Falle

Will man sich angesichts solcher Zahlen noch nennenswert steigern, läuft man rasch in die Pareto-Falle: Mit 20% des Aufwands erreiche ich bereits 80% des Erfolgs. Die nächsten 5% oder 10% Erfolg binden dagegen vielleicht schon weitere 50%. Und nun wird jeder Prozentpunkt Steigerung immer zäher zu erkämpfen sein. 100% sind schlechterdings unmöglich, 99% oder 98% auch illusorisch oder zumindest unwirtschaftlich teuer.

Hier ist ein kluger Mittelweg, ein klassischer Aufwands-Nutzen-Kompromiss gefragt: Zwar sollten Sie nicht selbstzufrieden in sich ruhen (und damit ein Abfallen der Quoten riskieren). Doch Sie sollten es eben auch nicht im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze treiben wollen.

Um 75%

Mit Erfolgsraten von knapp 70% bis rund 80% ist eine ganze Reihe von Lebensvorgängen gesegnet. So hält eine Ehe statistisch nur mit allenfalls 70%iger Wahrscheinlichkeit „bis dass der Tod sie scheidet“. Viele medikamentöse Therapien weisen Responderraten von 60% bis 75% auf – rund ein Drittel spricht gar nicht an, so bei vielen Lipidsenkern und Blutdrucksenkern. Deshalb wird die Vorabtestung auf Wirksamkeit und Verträglichkeit ein immer wichtigeres Thema.

In etlichen Unternehmen „überleben“ nur 70% oder 80% der Neueingestellten die Probezeit, und ähnlich sieht es bei vielen Studenten aus – vorzeitiger Abbruch nach wenigen Semestern.

Wir bewegen uns hier durchweg im Bereich eines lediglich noch „wahrscheinlichen“ Erfolges, aber weit weg von „sicher“ oder auch nur „einigermaßen sicher“. Dabei zeigen sich so manche Bruchlinien und Skurrilitäten der Statistik: Wir versuchen einerseits, vieles hundertprozentig zu machen, obwohl die entscheidenden Lebensrisiken oder wichtigen Erfolgsraten unserer Therapien sich auf einem ganz anderen, viel tieferen Level abspielen.

Mit Einzelmaßnahmen kommt man hier in der Regel nicht weiter. Optimierungen erfordern oftmals ein ganzes Maßnahmenbündel, ob Therapiekonzepte bzw. Kombinationstherapien in der Medizin, durchgreifende Veränderungen in der Betriebsführung zur Verminderung des Personalverschleißes oder gar komplette Lebensentwürfe im persönlichen Bereich.

Würfeln erlaubt?

Ziemlich viel im Leben hat Erfolgsquoten um 50% oder sogar weit niedriger. Der Würfel würde oft bessere Chancen einräumen. Bei etlichen chemotherapeutischen Krebstherapien wären „echte“ Erfolgsraten (Vollremissionen) von 50% oder nur 30% ein gewaltiger Fortschritt. Im Beruf macht, schon allein aus Gründen der Statistik, nur eine kleine Minderheit eine wirkliche Karriere im wahren Sinne des Wortes. Rein statistisch gilt Ähnliches heute für die Chance, zu einer ertragsstarken Top-Apotheke zu kommen, wenn man nicht gute Startvoraussetzungen mitbringt.

Und selbst so profane Dinge wie die Steigerung der Zusatzverkäufe haben, bezogen auf alle Kunden und abhängig von der jetzigen Aktivität, Erfolgsraten von meist weit unter 25%. Wer heute schon nicht auf den Mund gefallen ist, erreicht zusätzlich vielleicht nur noch einige Prozent der Kunden. Und viel Werbung wird zu 90%, 95% oder gar noch mehr für die Altpapiertonne gemacht.

Damit schließt sich der Kreis von „fast hundertprozentig“ bis „minimal“. Der kluge Unternehmer mit „Adlerblick“ kann mit solchen Quoten adäquat umgehen. 99% können im Einzelfall recht wenig sein und 10% sehr viel!

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2014; 39(23):4-4