Eingefahrene Wege

Kommen Sie Ihren Vorurteilen auf die Spur!


Ute Jürgens

Ich? Nein, ich doch nicht! Betriebsführung mit Vorurteilen, das kann doch nicht sein! Es ist aber häufiger der Fall, als wir es wahrhaben wollen. Die Kunst ist, das zu bemerken, daran zu arbeiten und dann sinnvoll zu handeln. Vorurteile und Stereotypen lauern überall!

Apothekeninhaber Herr Suchmann hat eine Stellenanzeige für eine(n) Approbierte(n) aufgegeben. Er bekommt gerade einmal zwei Bewerbungen: Herr Hohenheim und Frau Giersch-Özilma.

Herr Hohenheim hat die üblichen Unterlagen geschickt, er hat keine Kinder und ist gerade mit dem Studium fertig. Frau Giersch-Özilma hat schon zwei Jahre in Deutschland sowie drei Jahre in einer türkischen Apotheke gearbeitet und ist nun mit drei Kindern wieder nach Deutschland gezogen. Ohne lange Überlegung entscheidet sich Herr Suchmann für den männlichen Approbierten. Nach zwei Monaten ist klar: Herr Hohenheim muss noch einiges lernen, das ist ihm aber nicht bewusst.

Nach vier Monaten wundert sich Herr Suchmann darüber, dass die Nachbarapotheke so regen Zulauf hat und in seine Apotheke immer weniger Kunden kommen. Was ist passiert? Herr Hohenheim berät nur in dringenden Fällen, er hat keine große Lust auf praktische Pharmazie und wartet nur darauf, dass er die große Apotheke seines Vaters übernehmen und dort die betriebswirtschaftlichen Belange regeln kann.

Frau Giersch-Özilma hat zwischenzeitlich in der Apotheke des Mitbewerbers eine Stelle bekommen, ist voll in ihrem Element, berät als Sprachtalent viele Kunden, die des Deutschen noch nicht mächtig sind und extra ihretwegen kommen. Gleichzeitig startet sie jede Menge Aktionen, der Nachbarapotheker hat einen wirklichen Glücksgriff getan.

Opfer der Vorurteile

Herr Suchmann kommt ins Grübeln: „Wieso hatte ich mich eigentlich für Herrn Hohenheim entschieden?“ Nach längerem Überlegen und Studieren der beiden Bewerbungen wird ihm klar: Er ist Opfer seiner eigenen Vorurteile geworden!

Automatisch hatte er angenommen, dass Frau Giersch-Özilma Türkin ist, noch mehr Kinder bekommen und über kurz oder lang in die Türkei zurückkehren wird. Er ist davon ausgegangen, dass sie sich viel um die Kinder kümmern muss, nicht flexibel bezüglich der Arbeitszeiten ist und zu Hause bleibt, wenn die Kinder krank sind. Und wie sehen die nackten Tatsachen aus? Frau Giersch-Özilma ist die Tochter einer alteingesessenen bayrischen Familie, sie war zwei Jahre mit einem Türken verheiratet. Ihre Kinder sind schon 18, 19 und 21 Jahre alt und außer Haus. Nun startet sie mit frischem Elan.

Herr Suchmann grübelt: Wie konnte mir das passieren? Ausgerechnet mir, dem Neutralität und Unvoreingenommenheit so wichtig sind? Er informiert sich in der Literatur eingehend über das Thema Vorurteile, so erkennt er die Hintergründe seines Tuns.

Die Hintergründe

Jeder Mensch ordnet Gruppen wie Frauen, Amerikanern, Apothekern, Leistungssportlern etc. bestimmte Kennzeichen zu. Diese Klischees sind allgemein verbreitet. Männern wird zum Beispiel eher das Attribut „Karriere“ und Frauen eher „Familie“ zugeordnet. Afrikaner hält man für musikalisch, Asiaten für zurückhaltend etc.

Treffen wir nun einzelne Vertreter dieser Gruppen, hinterfragen wir nicht alles, sondern wir ordnen im Unterbewusstsein bereits die Klischees mitsamt den entsprechenden Gefühlen zu und handeln danach. Tests (z.B. implicit.harvard.edu/implicit/germany/takeatest.html) ergeben, dass das selbst dann der Fall ist, wenn wir von unserer Vorurteilsfreiheit überzeugt sind. In der Konsequenz urteilen wir nicht nur über andere, sondern schaden uns auch selbst.

Jüngere Menschen, die glauben, dass alte Menschen oft einen Herzinfarkt erleiden, bekommen selbst häufiger einen solchen, wenn sie selbst alt sind, als Menschen, die diese Überzeugung im jugendlichen Alter nicht besitzen. So berichten es die amerikanischen Psychologen Mahzarin R. Banaji und Anthony G. Greenwald. Da vieles im Unterbewusstsein wirkt, ist es natürlich schwierig, dagegen anzugehen.

Dazu eine Frage zwischendurch: „Würden Sie eine Affäre mit einem Leichenbestatter eingehen?“ Nein? Wieso nicht? Seien Sie ehrlich! Der größte Teil der Befragten zuckt bei dieser Frage zurück ...

Teure Nachteile

Was kosten uns unsere stereotypen Überzeugungen? Einiges! So dauern speziell bei Frauen die Diagnose und in der Folge die gesamte Therapie von Herzinfarkt und Schlaganfall länger, weil man nach „Schema F“ vorgeht.

Viele Kunden sind überzeugt, dass es sich bei Arzneimitteln in erster Linie um „Gifte“ handelt, was zu falscher bzw. inkonsequenter Einnahme führt. Auch hier: Hohe Kosten entstehen.

Und wie sieht es aus, wenn wir in der Apotheke davon ausgehen, dass der vor uns in billiger oder gar abgerissener Kleidung stehende Kunde kein Geld hat, um mehr als ein Nasenspray zu kaufen? Er hat nach Mitteln gegen seine Erkältung gefragt. Wieso starten viele von uns nicht die gleiche Beratung wie beim Managertyp in Anzug und Krawatte, der schon seine goldene Kreditkarte in der Hand hält? Wieder: Hohe Kosten entstehen bzw. Einnahmen entgehen.

Und Herr Suchmann? Ihn hat die ganze, immer noch andauernde Situation so gefuchst, dass er auf Abhilfe sinnt.

Schlanke Auswege

Banaji/Greenwald fragen: „Können wir den ,Automaten‘ unserer versteckten Voreingenommenheit überlisten?“ Die schlechte Nachricht zuerst: Mal eben ganz einfach löschen lassen sich diese Prägungen nicht. Dennoch können wir einiges ausrichten, uns quasi selbst austricksen.

Die erste Methode besteht darin, vor Entscheidungen die Kriterien zu hinterfragen. Zusätzlich kontrollieren Sie sich: Ist es wirklich das, was ich mir vorgenommen hatte? Vielleicht sind Sie auch schon mal mit etwas ganz anderem nach Hause gekommen, als Sie Stunden zuvor noch zu kaufen beabsichtigt hatten? Wie ist das passiert? Welchem Gruppengesetz sind Sie verfallen, ohne es zu bemerken?

Zweite Variation: Wenn ich mein Klischee bereits kenne, überlege ich mir ständig Gegenbeweise. Beispiel: Die Überzeugung „Frauen kommen nicht mit Technik zurecht“. Jetzt beobachte ich regelmäßig, wann es nicht so ist, schaue mir z.B. große Erfinderinnen an. Außerdem hänge ich ein Foto mit einem Gegenbeweis auf, um mich entsprechend neu zu „prägen“. So findet zumindest eine kleine Abschwächung der Voreingenommenheit statt.

Eine dritte Möglichkeit: Man verdeckt die Gruppe! Einige Firmen gehen heute so vor, dass sie die Bewerbungen gleich beim Eingang verschlüsseln. Die Entscheider wissen weder das Alter noch das Geschlecht, den Namen oder die Herkunft der Arbeitssuchenden. Auch Fotos werden nicht weitergegeben oder Informationen über Behinderungen. So findet die Auswahl nur über die tatsächliche Qualifikation statt. Das ist auch in der Apotheke möglich. Sämtliche Unterlagen werden zuerst von einem Mitarbeiter angeschaut und „bereinigt“. Erst wenn die Apothekenleitung entschieden hat, wird die Identität offengelegt.

Unser Herr Suchmann entscheidet sich für die dritte Methode als vorrangige Methode für die Zukunft. Für andere Situationen fasst er den ersten Weg ins Auge, sich vor Entscheidungen immer noch einmal zu fragen, ob die Lösung noch mit seinen Ausgangsbedingungen übereinstimmt.

Und Sie? Sammeln Sie Begebenheiten, wann Sie Stereotypen erliegen, und arbeiten Sie daran. Es ist doch auch nicht mehr nötig, alte Menschen anzuschreien, weil die immer so schlecht hören! Die haben ein Hörgerät …

Ute Jürgens, Kommunikationstrainerin und Einzelcoach, KomMed, 28865 Lilienthal, E-Mail: KomMed@freenet.de

Buch-Tipp

Mahzarin R. Banaji, Anthony G. Greenwald: Vor-Urteile – Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können. DTV (2017). 10,90 €

gern zu bestellen beim Deutschen Apotheker Verlag Telefon: 0711/2582 341, Telefax: 0711/2582 290, E‑Mail: service@deutscher-apotheker-verlag.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2017; 42(08):11-11