Prof. Dr. Reinhard Herzog
Angst und Panik sind nie gute Ratgeber. Ähnliches gilt für das Festhalten an lediglich „Bewährtem“. Im Rückblick hat gegenüber Pferdekutschenbesitzern, Hufschmieden, Steinkohlekumpeln, Heizern auf der Lok u.a. stets der Fortschritt obsiegt, obwohl sich alle bewährt und einen guten Job gemacht hatten. Im Zuge der Technisierung und Digitalisierung kommen wohl selbst vermeintlich sichere, aber teure und damit bevorzugt rationalisierungsgefährdete „Wissensberufe“ unter die Räder.
Der Fortschritt bewegt sich dabei in zwei Richtungen: in der quantitativen Dimension („Rationalisierung“, gleicher/höherer Output zu niedrigeren Kosten auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungsketten) sowie in qualitativer Hinsicht („Sprunginnovationen“, oft mit „Gamechanger-Potenzial“).
Während die quantitative Dimension überschaubar ist – „alle kochen nur mit Wasser, und das Geld wächst auch andernorts nicht an den Bäumen“ –, machen disruptive Technologiesprünge Angst, stellen sie doch ganze Berufszweige infrage. Das war das Automobil, die Digitalkamera, es ist das facettenreiche Internet, es werden künftig neue Antriebs- und Energietechnologien sein oder bei uns revolutionäre Ansätze der Krankheitsfrüherkennung, des Datenmanagements und darauf bauender, ganz neuer Therapieansätze. Der Angstgegner „Versand-Apotheke“ als Ableger des „Großkapitals“ ist hingegen recht leicht zu überschauen und in seinen Möglichkeiten limitiert, wenn auch zweifellos gefährlich.
Informieren statt schimpfen!
Wer mitreden will, sollte seine Mitbewerber kennen. Deshalb stellen wir einige Unternehmen aus der Internetlandschaft steckbriefartig vor, deren Zahlen öffentlich zugänglich sind; hierbei eignen sich vorrangig die Geschäftsberichte: Amazon, Zalando, Zur Rose und die Shop Apotheke Europe. Auf der anderen Seite des Globus schickt sich Alibaba (ebenfalls an der Börse notiert) mit „nur“ knapp 16 Mrd. $ Umsatz an, ein Mittelding aus Amazon, Ebay und Google in Asien zu werden.
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Während die Versand-Apotheken noch lange nicht auf dem wirtschaftlichen Erfolgspfad sind, sieht das bei den „Big Playern“ anders aus: Die Zahlen verbessern sich zusehends, wenn auch die prozentualen Renditen noch zu wünschen übrig lassen. So erwirtschaften bedeutende Autohersteller trotz aller Probleme operative Gewinne im Bereich von 8 bis 10 Mrd. €, die besten noch mehr, entsprechend einer EBIT-Marge von 7 % bis 10 %. Von Big Pharma oder Cashcows wie Microsoft nicht zu reden mit ihren hoch zweistelligen Renditen. Die klassischen Industrien liegen vielfach renditemäßig also noch vorne, aber die Verhältnisse kippen.
Denn die Internetgiganten gewinnen den Kampf um die Köpfe (über 7 Mrd. $ fließen bei Amazon weltweit ins Marketing!) und erreichen eine immer höhere Marktdurchdringung. Wer hat noch nicht bei Amazon oder einem Partner (inzwischen sind das ja auch manche Apotheken) bestellt? Ab einem gewissen Marktanteil hat man dann die Menschen an der Angel, und das Geldverdienen kann beginnen …
Andererseits ist die deutsche Gründerszene voll mit „Internet-Startups“, die meisten irgendwelche (Spezial-)Dienstleister oder der x-te Lieferdienst für irgendwas. Der größte Teil hat kaum wirtschaftliche Perspektiven und wird bestenfalls von einem „Riesen“ geschluckt. Es ist schon fraglich, ob ein „kleiner Riese“ wie Zalando (siehe Steckbrief) langfristig gegenüber den „großen Riesen“ bestehen kann.
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Wer nun meint, die Internetwirtschaft ist die große Vernichtungs- und Verarmungsmaschine: Das stimmt nicht. Es findet sehr wohl neue und rentable Wertschöpfung statt, denken Sie an die viele Hardware (Entwicklung und Herstellung), an Software (personalintensiv!), Netzwerktechnik, Zahlungsdienstleister wie z.B. PayPal, Logistikfirmen u.a.m. Insbesondere im Bereich „High Level IT“ findet jedoch leider viel zu wenig in Europa statt.
Enorme Marktkonzentration
Die neuen digitalen Geschäftsmodelle weisen ein besonderes Charakteristikum auf: Wie kaum in einer anderen Branche enteilen die Marktführer und erklimmen immer größere Höhen. Der große Rest blutet langsam aus oder kann sich allenfalls in spezielle, eng begrenzte Nischen verkrümeln, die noch nicht erschlossen wurden: „The winner takes it all.“ Die weltumspannende Erreichbarkeit der Kunden per Internet macht es möglich, dass die Nr. 1, vielleicht noch Nr. 2 und Nr. 3 richtig abräumen können. Die Machtkonzentration ist enorm – und wird wohl irgendwann die Staaten auf den Plan rufen, diese zu beschränken.
Das Vordringen des Internethandels hat bereits spürbare Auswirkungen auf die Kundenfrequenzen in Innenstädten und Centern. Und es geht weiter. So prophezeit man den Lieferdiensten für Lebensmittel („Same-Day-Delivery“ teils innerhalb einer Stunde wie bei Amazon Prime Now), die nach langer Experimentierphase jetzt von vielen großen Lebensmittelketten etabliert werden, ein Marktanteilspotenzial von 10 %. Waren Lebensmittler bislang die besten Frequenzbringer, so muss man hier künftig ebenfalls vorsichtigere Annahmen hinsichtlich der zu erwartenden Bonkunden machen (etwa 1 % oder gar noch mehr Minus jährlich). Das ist ein wichtiger Punkt bei der Begutachtung entsprechender Standorte!
Zahlenvergleich
Zurück zum Lieblingsgegner Internet-Apotheke. Interessant ist ein Vergleich der Kennzahlen: Steht die Offizin-Apotheke hier auf verlorenem Posten?
Der Geschäftsbericht der börsennotierten Shop Apotheke Europe AG (siehe Steckbrief) zeigt: Die Korbumsätze (Umsätze je Bestellung) liegen etwas über, die Erträge knapp unter denen einer durchschnittlichen Offizin-Apotheke, allerdings fast ausschließlich mit OTC-Produkten generiert. Die Spanne ist mit 20,5 % für dieses Segment, der Preispolitik geschuldet, entsprechend niedrig.
Dennoch bleiben gut 9 € Korbertrag. Doch diese reichen nicht, schwarze Zahlen zu erwirtschaften, im Gegenteil: Es steht schon ein rein operatives Minus (EBIT) von rund 2,90 € je Bestellung an. Nur zur Deckung der operativen Kosten (noch ohne Zinsen + AfA!) wären somit bereits etwa 27 % Marge nötig (statt 20,5 %).
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Zum Vergleich: Die durchschnittliche Offizin-Apotheke erzielt ebenfalls 9 € bis 10 € Ertrag je Bonkunde und arbeitet damit trotz höherer Personalkosten, größerem Aufwand für Räumlichkeiten, Labor usw. rentabel; Center-Apotheken schaffen es gar mit Werten um 7 € Bonertrag, Gewinne zu schreiben.
Bei DocMorris/Zur Rose dürften die Korbumsätze noch höher liegen (ein Grund: höherer Rx-Anteil), die Spanne ist mit 15 % aber deutlich niedriger als bei der OTC-lastigen Shop Apotheke. Der Korbertrag dürfte sich nicht so weit unterscheiden. Nachhaltige Gewinne und ordentliche Umsatzrenditen? Bisher Fehlanzeige!
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Gleich lange Spieße?
Diese Befunde erstaunen, ist doch das Versandgeschäft viel einfacher und nicht von „Gemeinwohlpflichten“ beeinträchtigt. Doch schauen wir näher hin:
- Unsere Beratung schlägt in Form der Kosten für HV-Personal mit etwa 2,50 € bis 3,50 € je Bonkunde zu Buche, in Lauflagen teils deutlich weniger.
- Die Raumkosten liegen in der Regel mehr oder weniger klar unter 1 € je Kunde.
- Die Querfinanzierung der viel zitierten „Gemeinwohlpflichten“ (Labor, Notdienst usw.) beträgt, rechnet man die dafür gewährten Honorare gegen, unter dem Strich meist unter 0,50 € je Kunde.
Bei der Päckchen-Konkurrenz fließen ähnliche, teils deutlich höhere Beträge pro Bestellung in Versandkosten und ein teils astronomisches Marketing. Denn was nützt ein netter Internet-shop, den niemand kennt – ein gerne übersehenes Problem, übrigens auch bei neuen Digitalangeboten der Offizin-Apotheken.
Muss man vor solcher Konkurrenz nun Angst haben?
Ja, wenn Rx-Arzneimittel, die „Sahnestücke im Versand“, in großem Maßstab ins Spiel kommen und die klassischen Apotheken dem keine Alternative entgegenzusetzen haben. Bei Stückerträgen ab 7 € bis zu einigen Hundert Euro (Hochpreiser) kann man auch einen Bonus abzweigen: Hochkostenpatienten und Chroniker lassen grüßen. Die Bonusjagd der Kunden (wie viele sind das zu welchem „Preis“?) wäre jedoch „Kleingeld“ gegenüber Selektivverträgen der Krankenkassen, sollte es je dazu kommen. Diese Verträge dürften den auf schmalem Renditepfad wandelnden Versand zu immer größeren Stückumsätzen zwingen, schließlich stünden spürbare Einsparungen im Vordergrund. Bei den Versendern käme es zur starken Selektion und Konzentration, mit allen Folgen. Die Lenkung der Kunden durch die Kostenträger ist der „Critical Point“ schlechthin!
Anlegerperspektive
Es entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, dass Gegner als übermächtig dargestellt werden, aber kaum jemand die Chance ergreift, sich per Aktienkauf an diesen Erfolgsstorys zu beteiligen. Nehmen wir die Jahre ab 2004: Wie viele Kollegen haben damals kräftig in Filialen investiert?
Und nun rechnen Sie mal, Sie hätten diesen Betrag in einen Korb von „Digitalisierungsgewinnern“ investiert: z.B. Amazon, Apple, Facebook, Google, Microsoft … denken Sie nicht darüber nach, Sie hätten Ihr Geld vervielfacht! Die Amazon-Aktie war z.B. Anfang 2007 um 30 € zu haben, heute für knapp 900 €!
Schimpfen Sie nicht nur über das „böse“ Großkapital. Aktiengesellschaften (viele „Angstgegner“ sind börsennotiert!) sind alles andere als schieres Großkapital in der Hand weniger, sondern oft breit gestreut; jeder kann sich beteiligen und profitieren!
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2017; 42(11):4-4