Interview mit Thomas Golly, Geschäftsführer Sempora Consulting

"Großteil der E-Rezepte bleibt in der Offizin"


Dr. Hubert Ortner

Thomas Golly berät üblicherweise die Pharmaindustrie und Versender zur Entwicklung des Marktes. Insofern ist sein Blick auf die Vor-Ort-Apotheken nüchtern, frei von jedem protektionistischen Duktus und damit besonders lehrreich – wenngleich nicht immer schmeichelhaft.

Thomas Golly: "Das strategische Vorgehen von Amazon wird wesentlichen Einfluss auf die Verteilung des Marktes haben. Allerdings wird sich ein aktiver Markteintritt zunächst vor allem auf den Versandhandel auswirken."

Herr Golly, worin sehen Sie die aktuell größten Herausforderungen für Vor-Ort-Apotheken?

Golly: Kunden denken und handeln mehrheitlich kanalübergreifend – also sowohl online als auch offline. Das tun sie im Übrigen in unterschiedlichen Lebensbereichen, wobei der Gesundheitsbereich von der Bevölkerung in Deutschland bezüglich Digitalisierung als eher rückständig angesehen wird. Vor diesem Hintergrund wird die Einführung des E-Rezepts – auch wenn es verzögert und schrittweise umgesetzt wird – bei Kunden auf hohe Akzeptanz stoßen und gleichzeitig erhebliche Auswirkungen für die Apotheken haben.

Versandapotheken werden absehbar profitieren, da bestimmte Kundengruppen ihre Rezepte zunehmend online einlösen werden. Diese Rezepte erreichen dann nicht mehr die stationäre Apotheke, damit wird diese wichtige Erlösquelle zumindest teilweise erodieren.

Ihre Schlussfolgerung, dass E-Rezepte zumindest teilweise einen digitalen Bogen um die lokalen Apotheken machen werden, halte ich für gewagt: Es mag schon stimmen, dass DocMorris zurzeit am lautesten trommelt – doch haben auch die Vor-Ort-Apotheken längst ihre digitalen Hausaufgaben gemacht und verfügen zudem über den breitesten Kundenzugang.

Golly: Eben deshalb wird der Großteil der E-Rezepte in der Offizin verbleiben. Da aber heute über 98% der Rezepte stationär eingelöst werden, ist jeder Prozentpunkt, der in den Versandhandel wandert, ein echter Zugewinn für den Onlinehandel.

Wie wird die Einführung des E-Rezepts Ihres Erachtens auf das OTC-Geschäft rückkoppeln? Erwarten Sie verstärkte Cross-Selling-Effekte zwischen Rx- und OTC-Präparaten?

Golly: In der Tat rechnen wir mit solchen Cross-Selling-Effekten zwischen Rx und OTC. Durch den verstärkten Kundenstrom werden die Online-Apotheken positive Verbundeffekte auf das OTC-Geschäft haben, das heute schon zu über 25% beim Versandhandel liegt.

In der Folge wird der OTC-Versandhandel in den nächsten Jahren deutlich zunehmen. Gleichzeitig stagniert das OTC-Umsatzvolumen der stationären Apotheken und verteilt sich zugleich auf eine abschmelzende Anzahl größer werdender Offizin-Apotheken.

Sind Online-Marktanteile für OTC-Produkte deutlich jenseits der 30%-Marke wirklich zu erwarten? Die Mehrzahl der OTC-Verkäufe basiert doch typischerweise auf Akut-Diagnosen, und da werden selbst "Digital Natives" kaum warten wollen, bis das Päckchen aus den Niederlanden ein oder zwei Tage später eintrudelt …

"Ein Trend, der sich weiter fortsetzen wird, ist die Konzentration im Apothekenkanal: Schon jetzt stehen 10% der umsatzstärksten Apotheken für fast 30% des OTC-Absatzes im stationären Handel."

Golly: 30% Versandhandelsanteil im OTC-Sektor sind wirklich kein großer Schritt mehr. Ein hoher Anteil des Selbstmedikationsmarktes sind Produkte zur Prävention oder wiederkehrenden Einnahme. Hier greift die Akutmechanik nicht. Und selbst Präparate zur Akutversorgung kaufen Kunden online, um zum Beispiel ihre Hausapotheke – etwa für die Erkältungssaison – auszustatten.

Die Verschiebung der Kundenpräferenzen Richtung E-Commerce ist das Resultat verschiedener Trends. Die Einführung des E-Rezeptes ist hier nur ein Mosaikstein.

Welche Folgen werden all die genannten Punkte aus Ihrer Sicht auf die deutschen Offizin-Apotheken haben?

Golly: Apotheken werden sich neben ihrer heilberuflichen Rolle betriebswirtschaftlich neu aufstellen müssen. Dies zeigt sich schon heute exemplarisch an der wachsenden Marktrelevanz von Filialapotheken: Durch den Aufbau einer Kleinkette können Apotheker kaufmännisch erfolgreicher agieren. Das reicht von der Standortentwicklung über das Personalmanagement bis hin zur Durchführung analoger – und in Zukunft zunehmend digitaler – Vermarktungsaktionen. Daneben werden durch die Bündelung von Umsatzvolumina Einkaufs- und Konditionenvorteile gegenüber der Industrie und dem Großhandel realisiert, was den Apotheken wiederum größere Spielräume für Zukunftsinvestitionen ermöglicht.

Der Umsatzvorsprung der Verbundapotheken gegenüber Einzelapotheken ist schon heute erheblich und wird weiter wachsen (Abbildung 1).

Mit Amazon drängt der weltgrößte Online-Versender zunehmend auch in den lukrativen europäischen Medikamentenmarkt und will sich dort ebenfalls ein ordentliches Stück vom Kuchen sichern. Welche Rolle wird der US-Konzern hier mittelfristig spielen?

Golly: Das strategische Vorgehen von Amazon wird wesentlichen Einfluss auf die Verteilung des Marktes haben. Allerdings wird sich ein aktiver Markteintritt als Online-Apotheke zunächst vor allem auf den Versandhandel auswirken. Das Potenzial, das Amazon bei seiner bestehenden Kundenbasis hat, ist enorm: Diese können sehr einfach angesprochen werden, zudem verfügt Amazon bei seinen Bestandskunden über exzellente Möglichkeiten zum "Targeting".

Interessant wird sein, wie sich die anderen Internet-Apotheken mittelfristig aufstellen werden. Schon jetzt zeigen sich zwei konträre Ansätze im Verhalten gegenüber Amazon: Eine Hälfte nutzt den Amazon Marketplace für sich als dynamischen Vertriebskanal, die anderen Versender vermeiden es, ihre Kunden an die Amazon-Plattform zu "gewöhnen" (Tabelle 1).

Wie stehen die deutschen Apotheker Ihres Erachtens zu Amazons Plänen, den deutschen bzw. europäischen Arzneimittelmarkt stärker für sich zu erschließen?

Golly: Auch die Vor-Ort-Apotheken beschäftigt der Gedanke eines Markteintritts von Amazon. Im Rahmen der aktuellen Sempora Apothekenmarktstudie gaben knapp 30% der befragten Apothekeninhaber an, dass sie sich vorstellen könnten, eine Amazon-Prime-Partnerapotheke zu werden, falls diese Möglichkeit bestünde.

Hielten Sie das für eine gute Idee? Müssen die Apotheker die Fehler anderer Branchen wirklich eins zu eins wiederholen? Betrachten wir z.B. den Consumer Electronics-Markt: Dort hat der stationäre Fachhandel zunächst von der Bekanntheit des Amazon-Marktplatzes profitiert, dann aber – wohl zu spät – festgestellt, dass mit der "Übergabe" der Kunden an den US-Konzern zunächst die Marge und dann auch die Marktanteile peu à peu zulasten von Amazon weggeschmolzen sind.

Golly: Das hängt sehr von den Gegebenheiten der jeweiligen stationären Apotheke ab. Generell werden sich Apotheker aber für Partnerschaften öffnen müssen, um Marktpotenziale zu nutzen, sich am Standort zu profilieren und der kanalübergreifenden Perspektive der Kunden gerecht zu werden.

Man darf eines nicht aus dem Blick verlieren: Amazon wächst nicht, weil die etablierten Händler ihre Kunden an Amazon "übergeben", sondern weil die Konsumenten Amazon häufig als die attraktivere Alternative ansehen.

Welche weiteren Trends beobachten Sie derzeit im Apothekenmarkt?

Golly: Ein weiterer Trend, der sich fortsetzen wird, ist die Konzentration im Apothekenkanal: Schon jetzt stehen die 10% umsatzstärksten Apotheken für beinahe 30% des OTC-Absatzes im stationären Handel. Und diese 10% werden auf der Zeitachse weitere Marktanteile hinzugewinnen (Abbildung 2).

"Im Rahmen der aktuellen Sempora Apothekenmarktstudie gaben knapp 30% der befragten Apothekeninhaber an, dass sie sich vorstellen könnten, eine Amazon-Prime-Partnerapotheke zu werden, falls diese Möglichkeit bestünde."

Welche Rolle spielt für die Erträge der Vor-Ort-Apotheken eine kluge Preisgestaltung bei OTC-Medikamenten?

Golly: Die Preisgestaltung ist der entscheidende Faktor bei der Gewinnoptimierung. Ein kluges Pricing ist der größte Hebel, um seine Erträge zu steigern. Versandhändler nutzen die Möglichkeiten einer differenzierten Preisgestaltung sehr intensiv – häufig über hohe Rabatte auf einzelne Produkte zur gezielten Generierung von Marktanteilen. Um hier zu bestehen, werden die Offizin-Apotheken "Smart Pricing"-Konzepte nutzen müssen.

Dazu bedarf es zuallererst der Investition in aktuelle und tiefenscharfe Daten. Den Einsatz von datenbasierten Services wie "Solvena TruePrice" und anderen kann ich in diesem Kontext jeder Apotheke, die ihre Erträge mit OTC-Produkten optimieren möchte, nur empfehlen. Der Effekt auf den Gewinn ist zu groß, um dieses Thema nicht aktiv anzugehen.

Das Interview führte Dr. Hubert Ortner

Dr. Hubert Ortner, Biochemiker, Chefredakteur AWA, E-Mail: hortner@dav-medien.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2022; 47(01):6-6