Prof. Dr. Reinhard Herzog
Seht an: So schnell sind "Lockdowns" wieder auf dem Schirm. Für viele Betriebe heißt das "Alarmstufe rot". Wie ernst ist die Lage?
Mit "Omikron" stehen wir vor zwei Herausforderungen: Zum einen unterläuft diese Variante den Impfschutz vor allem hinsichtlich Übertragbarkeit; der Schutz vor schweren Erkrankungen bleibt bekanntlich vorerst besser erhalten, wenn auch um etliche Prozentpunkte vermindert. Es besteht somit nur ein geringer Impfschutz vor Ansteckung, der bereits vorher nicht überragend war. "Boostern" nimmt hier nur temporär etwas Druck aus dem Kessel. Zum anderen ist die Infektiosität an sich (Basisreproduktionszahl R) nochmals erhöht, R0-Werte um oder gar etwas über 10 sind plausibel. Beides zusammen wirft uns infektionskinetisch gar vor die Situation im Frühjahr 2020 zurück, wo wir zwar immunnaiv "nur" gegen einen R-Wert von 3 angehen mussten. Bei Delta (R0 um 7) halfen immerhin schon die Impfungen mit, wenn auch nicht perfekt. Insoweit ist die jetzige Lage tatsächlich schwierig wie nie.
Dafür mehren sich die Signale für einen harmloseren Verlauf. Eine Reduktion der Letalität um größenordnungsmäßig 70% (oder gar mehr) steht anekdotisch und noch unsicher im Raum (auf dann weit unter 1% in unserem hiesigen Bevölkerungsschnitt, ohne Impfwirkungen).
Dagegen steht jedoch das Gesetz der großen Zahlen. Eine tödliche Krankheit ist unter dem Strich harmloser, wenn sie sich nicht stark ausbreiten bzw. durch vergleichsweise einfache hygienische Maßnahme daran gehindert werden kann. Infizieren sich hingegen große Teile einer Bevölkerung, schlagen selbst recht geringe Sterbe- und Hospitalisierungsquoten in hohen absoluten Zahlen auf, zudem in sehr kurzer Zeit. Das ist das Ergebnis aller klassischen Modellierungen.
Positiv ist, dass solche Wellen, so man es denn zulässt, aufbrausend heftig, aber kurz "durchrauschen". Die Jackpot-Frage schlechthin ist, ob überhaupt je eine stabile Grundimmunisierung, per Impfung oder natürlich, stattfinden kann – ansonsten stecken wir in der immunologischen Endlosschleife ("Erkältung XXL"). Das wissen wir noch nicht hinreichend genau.
Die realistischen Optionen
Ist das Latein am Ende, kommt der Holzhammer "Lockdown". Doch mit zunehmender Infektiosität stumpft dieses Instrument ab, bzw. muss immer härter und länger ausfallen. Es ist, als wenn man einen zu Tal rasenden Zug stoppen möchte, aber in jeder neuen Variante ist der Zug schwerer und das Gefälle steiler. Abbildung 1 illustriert modellhaft die zeitlichen "Bremswege" bei unterschiedlichen Infektiositäten und Reduktionsraten der Ansteckung. Das jeweilige Inzidenz-Ausgangsniveau ist relativ stets mit 100% angenommen.
Bremsen, bis es qualmt?
Am Ende geht es darum, die Ansteckungsrate, vom R-Wert ausgehend, unter 1 zu drücken – durch die Senkung von erstens der Kontaktrate (wer trifft wie viele Personen) und zweitens der Ansteckungswahrscheinlichkeit je Kontakt (von AHA-Regeln bis zur Immunisierung).
Tatsache ist: Um von einem hohen Ausgangsniveau in anzustrebende Niedriginzidenz-Regionen zu kommen, dauert es jetzt eher Monate statt Wochen und benötigt sehr starke Senkungen der Infektionsrate von über 90%. Hebt man die Maßnahmen auf, droht der Jo-Jo-Effekt. Die enorme Verbreitungsfreudigkeit der immunflüchtigen Omikron-Variante lässt zudem für den Sommer ein höheres "Grundrauschen" erwarten – ob auch bei schweren Verläufen, bleibt abzuwarten.
Am Ende steht die unbeantwortete Frage, mit wie vielen Toten und Klinikfällen wir zu leben bereit sind. Dies nur an den Behandlungskapazitäten festmachen zu wollen, ist eine verdrängende Stellvertreterdiskussion. Und politisch gibt es ja "keine roten Linien mehr" – das kann man in verschiedene Richtungen interpretieren.
Schwere Zeit voraus!?
"Dauerwelle" und "never ending story" verdichten sich so zur gelebten Realität. 2022 dürfte so wahrscheinlich nochmals schwieriger werden, und langsam stellen sich zudem Ressourcenfragen aller Art. Lockdowns können wieder die nächsten Monate beherrschen. Zwischen "Einigeln" auf Sparflamme und offensivem Ergreifen der sich ja auch ergebenden Chancen spielen sich die Handlungsoptionen gerade für die Apotheken ab. Für manch einen stellen sich grundlegende Richtungsentscheidungen, denn wer will sich dauernd vom Zufall treiben lassen? Eine interessante Variante praktizieren einige Händler (da wegen der 2G-Regeln): Sie als Kunde dürfen nicht rein – wir kommen raus! Für raumbeengte Offizinen ist dies eine erwägenswerte Option, darstellbar mit Handheld-Rechnern und mobilen Kartelesegeräten.
Aus der Pharma-Küche
Die Einführung von Zweitgenerations-Impfstoffen (sinnvollerweise auch polyvalent) und deren Verimpfung klappt bestenfalls bis zum nächsten Winter. Ob sich so eine stabilere Immunität erzielen lässt, bleibt einstweilen offen.
Paxlovid (Fa. Pfizer), ein potenter Virusprotease-Inhibitor, könnte sich in dieser verfahrenen Lage als echter Gamechanger erweisen. Sollten sich die Wirksamkeiten von fast 90% bei der Vermeidung schwerer bzw. tödlicher Verläufe in der Praxis bestätigen, käme dies dem Schutz heutiger Impfungen nahe oder würde ihn bei neueren Immunescape-Virusvarianten womöglich sogar übertreffen. Fünf Tage beträgt die Behandlungsdauer zu Kosten von einigen hundert Euro. Deutlich sechs- bis niedrig siebenstellige Absatzzahlen sind allein hierzulande zu erwarten, sodass wohl eine Risikoauswahl getroffen werden muss, nebst einem gesonderten Vertriebsweg mit eigener Vergütung (Apotheke: 30 € netto je Packung im Gespräch). Entscheidend ist hier die Früherkennung aufgrund des therapeutischen Zeitfensters von drei bis fünf Tagen. Den niedrigschwellig erreichbaren Apotheken kann hier eine Paraderolle zukommen. Behalten Sie an dieser Stelle die entsprechenden Aktien im Auge (hier Pfizer).
Aus dem Garten der Natur kann Pelargonia sidoides (EPs® 7630-Extrakt, in Umckaloabo® Fa. Schwabe) als Off-label-Use für positiv Getestete mit Erkältungs- bzw. möglichen Corona-Frühsymptomen in Betracht kommen. Die in-vitro-Daten gegenüber SARS-CoV-2 sehen ganz gut aus. Doch darf man noch nicht zu viel erwarten. Der Unterschied zwischen in-vitro-Daten und der pharmakologischen "real world" ist groß. Gleichwohl geht man kein unbotmäßiges Risiko mit solchen Präparaten ein.
Und neben den bekannten Vorzügen der (Mikro-)Nährstoffversorgung sei auf die gute alte Bettruhe samt Schwitzkur (gern mit Linden- und Holunderblütentee) hingewiesen – ein altes, aus der Mode gekommenes Hausmittel, welches aber schon mancher Infektion den Garaus gemacht hat.
Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2022; 47(01):4-4