Interview mit Jochen Brüggemann, RED

„Der Karren steckt tief im Sumpf!“


Dr. Hubert Ortner

Während allerorts das Hohelied auf E-Rezept und TI angestimmt wird, wirkt Jochen Brüggemanns Analyse wie ein schriller Weckruf: Angesichts gravierender Mängel sowie fehlender Anreize für Ärzte und Apotheker hält er sogar ein komplettes Scheitern für nicht vollkommen ausgeschlossen.

Jochen Brüggemann: „Wir müssen die beiden Hauptbeteiligten mitnehmen und Anreize für sie schaffen: Solange Ärzte und Apotheker nicht von den TI-Services profitieren, sondern sogar Geschäft einbüßen, werden sie auf der Bremse stehen. Wir brauchen eine kluge ‚Incentivierung statt Sanktionierung‘.“

Nach den holprigen Trippelschritten der letzten Jahre soll das E-Rezept ab 1.9.2022 nun tatsächlich verpflichtend eingeführt werden. Womit rechnen Sie, Herr Brüggemann – mit einem reibungslosen Rollout, Chaos in den Arztpraxen und Apotheken oder der nächsten Verschiebung?

Brüggemann: Der Status quo beim E-Rezept und der TI (Telematik-Infrastruktur) ist – allem enthusiastischen Hurra-Geschrei zum Trotz – desaströs. Der Karren steckt sehr tief im Sumpf, und es wird eine Herkules-Aufgabe, ihn dort wieder rauszuholen. Wir brauchen einen neuen Ansatz! Erschwerend kommt hinzu, dass alle bisherigen Prognosen zur Markteinführung Unsinn waren – zum Teil aus Unwissenheit, zum Teil aus Profitgier. Zudem stellt sich die Frage, was „verpflichtend“ genau bedeutet. Es war ja immer Konsens, dass – parallel zur Einführung des E-Rezepts – Verordnungen über Muster-16-Vordrucke weiterhin möglich sind. Ansonsten hätten wir bei einem Ausfall der TI ein riesiges Problem. Insofern rechne ich damit, dass die Ärzte auch nach der verpflichtenden Einführung des E-Rezepts munter weiter Muster-16-Rezepte ausstellen werden. Sie werden insofern mit den Füßen – in diesem Fall ihren Druckern – abstimmen.

Und wenn sich das BMG als Mehrheitsgesellschafter der gematik doch zu einer Einführung mit der Brechstange entscheidet – wie für Bayern und Schleswig-Holstein ja ursprünglich angekündigt …?

Brüggemann: Das kann ich mir nicht vorstellen: Angesichts der Fehleranfälligkeit der gesamten TI braucht es einen funktionierenden Alternativprozess – sonst wäre die Versorgung der Patienten ernsthaft gefährdet. Eines sollte man in Berlin nie außer Acht lassen: Druck erzeugt Gegendruck, und die Patientenversorgung hat absoluten Vorrang!

Kann es wirklich sein, dass wir als Hochtechnologieland daran scheitern, ein Stück rosa Papier über alle Ebenen unseres Gesundheitssystems hinweg durch einen digitalen Workflow zu ersetzen?

Brüggemann: Das ist für mich keine Frage von technologischer Kompetenz. Wir haben einen eingespielten, gut funktionierenden analogen Prozess, in den mehr als 100.000 Teilnehmer eingebunden sind. Wenn Sie einen solchen grundlegend ändern wollen, die beiden Key Player dadurch aber nur Nachteile haben, wird es extrem schwierig: So ist das Interesse der Ärzte an einer derartigen Digitalisierung des Gesundheitswesens (inklusive E-Rezept) gleich Null, weil sie durch den Verlust bzw. die Reduzierung des direkten Arzt-Patienten-Kontakts Geschäft einbüßen. Schließlich ist die Honorierung unmittelbar an den Arztbesuch gekoppelt. Und auch die Apotheker haben kein großes Eigeninteresse – weil sie zu Recht befürchten, dass das E-Rezept nur die Versender groß macht. Das erzeugt starken Widerstand.

„Der Versuch, alle TI-Dienste zugleich einzuführen und das auch noch mit völlig utopischen Zeitplänen, hat schon beinahe etwas Surreales: Keiner der sechs TI-Dienste fliegt bislang wirklich, dennoch sollen alle gleichzeitig eingeführt werden. Das ist in etwa so, als wenn ich kurz vor der Eröffnung des BER schnell noch ein zweites und drittes Terminal dazu baue und zeitgleich auch noch das Stromnetz von 110 auf 220 Volt umstellen muss …“

Aber es ist doch unstrittig, dass eine stärkere Digitalisierung des Gesundheitssystems insbesondere für die Patienten perspektivisch viele Vorteile bringen würde – Stichwort Vermeidung von Doppeluntersuchungen, systematische Auswertung von Krankheitsdaten etc.

Brüggemann: Das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Nur müssen Sie die beiden Hauptbeteiligten in diesem Prozess mitnehmen und Anreize schaffen: Solange Ärzte und Apotheker nicht direkt von den TI-Services profitieren, werden sie auf der Bremse stehen. Wir brauchen eine kluge Incentivierung statt Sanktionierung.

„Der Status quo beim E-Rezept und der TI ist – allem enthusiastischen Hurra-Geschrei zum Trotz – desaströs. Der Karren steckt sehr tief im Sumpf, und es wird eine Herkules-Aufgabe, ihn dort wieder rauszuholen. Wir brauchen einen neuen Ansatz!“

Wie könnten solche Anreize konkret aussehen, ohne gleich wieder das (ohnehin leere) Füllhorn über ihnen auszuschütten?

Brüggemann: Es gibt genau drei Formen von Anreizen, die verlässlich funktionieren: 1. Geld, 2. Geld und 3. Geld. Bei der Ausgestaltung gibt es viele Möglichkeiten – wie wäre es z.B., bei E-Rezepten bis auf Weiteres alle Sanktionierungen rund um die Arzneimittel-Budgetierung auszusetzen?

Wenn der TI-Karren tatsächlich so tief im Sumpf steckt, wie von Ihnen eingangs behauptet: Was sind die wesentlichen Gründe für diese desaströse Entwicklung?

Brüggemann: Ich sehe hier vor allem zwei Gründe: Zum einen ist die technologische Basis, auf der die TI aufbaut, völlig veraltet und viel zu kompliziert: So basieren z.B. alle Dienste der TI auf jeweils unterschiedlichen Kommunikationsstandards – ein Unding. Zum anderen hat der Versuch, alle TI-Dienste zugleich einzuführen und das auch noch mit völlig utopischen Zeitplänen, schon beinahe etwas Surreales: Keiner der sechs TI-Dienste fliegt bislang wirklich, dennoch sollen alle gleichzeitig eingeführt werden – und das in einem Markt mit knapp 100 Krankenkassen und 100 verschiedenen Arztpraxis-Softwarelösungen.

Das ist in etwa so, als wenn ich kurz vor der Eröffnung des BER schnell noch ein zweites und drittes Terminal dazu baue und zeitgleich auch noch das Stromnetz von 110 auf 220 Volt umstellen muss …

Zweifelsohne berechtigt ist der massive Ärger in der Ärzteschaft über den anstehenden Konnektorentausch für die TI. Wie kann es sein, dass 130.000 Konnektoren ersetzt werden müssen, bevor E-Rezept, ePA & Co. auch nur 10 cm Flughöhe gewonnen haben? Wer ist dafür verantwortlich, dass hier eben mal 500 Mio. Euro „verbrannt“ werden?

Brüggemann: Meistens gibt es nicht den einen Grund, wenn ein Projekt dieser Größenordnung scheitert. Eigentlich hätte die gematik schon vor fünf Jahren – beim Start der TI – die Version 2.0, die ohne Hardware-Komponenten wie Konnektoren und Kartenterminals auskommt, auf den Weg bringen müssen. Aber damals wollte niemand die Warnungen hören, dass die Konnektoren in wenigen Jahren schon wieder veraltet sein würden.

Ist der Austausch zum jetzigen Zeitpunkt wirklich nötig? Oder hat da einfach die Vertriebsabteilung der entsprechenden Hardware-Hersteller exzellente „Überzeugungsarbeit“ geleistet …?

Brüggemann: Nach Einschätzung des BSI (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik) ist der Austausch notwendig, und die sind diesbezüglich das Maß der Dinge. Fakt ist: Wenn die Sicherheit der TI nicht auf dem allerhöchsten Niveau ist, besteht die Gefahr, das Vertrauen in die Digitalisierung komplett einzubüßen.

Ihr Unternehmen RED Medical bietet Ärzten und Apotheken einen rein webbasierten, Konnektoren-losen TI-Anschluss. Heißt das, dass Ihre Kunden von diesem Austausch nicht betroffen sind – weder finanziell noch in ihrem Arbeitsablauf?

Brüggemann: Fest steht, dass nicht nur unsere Bestandskunden, sondern auch diejenigen, die sich jetzt im Rahmen des Austausches für unsere Lösung entscheiden, viel weniger für den Austausch bezahlen werden, als sie erstattet bekommen. Und natürlich ist der Aufwand in den Arztpraxen und Apotheken viel geringer, weil der Austausch ja zentral in unserer Konnektoren-Farm erfolgt.

Ich bin überzeugt: Wenn es eine Lösung wie die von RED gibt, die 50% bis 70% günstiger ist und 90% weniger Ressourcen braucht – wir benötigen nur ein Zehntel der Konnektoren –, dann wird der Markt das auch honorieren.

„Meines Erachtens ist es gar nicht unwahrscheinlich, dass die TI und das E-Rezept überhaupt nicht zum Fliegen kommen. Dennoch sollten Sie sich als Apothekenleiter aktiv mit der Digitalisierung auseinandersetzen. Sie müssen verstehen, was da auf die Branche zukommt. Und lassen Sie sich von niemandem hetzen: Ein zu spät gibt es im deutschen Gesundheitswesen kaum!“

Wechseln wir die Perspektive von den „Bestraften“ zu den „Nutznießern“ der Digitalisierung. Wer sind Ihres Erachtens die größten Profiteure einer zügigen, flächendeckenden Einführung des E-Rezepts hierzulande, das ja nicht zufällig häufig als „Gamechanger“ beschrieben wird?

Brüggemann: Die Versender sind sicher die größten Profiteure des E-Rezepts, das gilt aber ebenso für deutsche Apotheken mit Versandhandel. Deshalb singen diese auch das Hohelied auf die Digitalisierung Und natürlich profitieren auch die Anbieter der TI-Technologie von der Umstellung.

Bei RED Medical würden wir uns viel lieber damit beschäftigen, echte Mehrwerte für unsere Ärzte- und Apotheken-Kunden zu generieren, als uns mit der TI-Einführung zu beschäftigen. Das bindet nur Ressourcen, die wir anderweitig besser einsetzen könnten. Trotzdem gehen wir zugegebenermaßen davon aus, dass auch unser TI-as-a-Service-Angebot nun eine noch größere Aufmerksamkeit erlangen wird.

Was raten Sie Apothekeninhabern und -leitern im Spannungsfeld zwischen digitalem Hurrageschrei auf der einen und begründeter Skepsis auf der anderen Seite: Wie sollen sie mit den TI-Services – allen voran dem E-Rezept – und den damit verbundenen Investitionen konkret umgehen?

Brüggemann: Meines Erachtens ist es nicht vollkommen ausgeschlossen, dass die TI und das E-Rezept überhaupt nicht zum Fliegen kommen. Dennoch sollten Sie sich als Apothekenleiter aktiv mit der Digitalisierung ausein- andersetzen. Sie müssen verstehen, was da auf die Branche zukommt – oder Sie brauchen zumindest einen Berater, dem Sie vertrauen. Und es ist bei solch aufgeladenen Themen immer ratsam, den gesunden Menschenverstand einzusetzen.

Und lassen Sie sich von niemandem hetzen: Ein zu spät gibt es im deutschen Gesundheitswesen kaum! Investieren Sie zuerst in Ihre eigene Website. Probieren Sie ruhig mal etwas aus, aber stets nach der Devise „fail cheap“. Es gibt ja inzwischen auch interessante dialogbasierte Plattformangebote, die Ihre Beratungsexpertise in den Mittelpunkt stellen, Sie fair am Erfolg partizipieren lassen und nicht gleich eine Vertragsbindung von fünf Jahren vorsehen.

„Aus rein technischer Sicht wäre Einreißen und Neubauen wahrscheinlich die bessere Option. In der Praxis wird sich diese Frage aber in der Tat nicht stellen, weil sie ein politisches ‚No Go‘ darstellt. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn man endlich die surreal enge Taktung aus dem Ganzen rausnehmen würde.“

Was müsste Ihres Erachtens geschehen, Herr Brüggemann, um E-Rezept, eAU & Co. doch noch zum Fliegen zu bringen?

Brüggemann: Als Erstes bräuchte man endlich einen realistischen Zeitplan anstelle utopischer Fantasie-Ziele: Von 0 auf 100 in 0,1 Sekunden – das kann und wird nicht funktionieren. Zweitens sollte man sich auf eine einzelne TI-Anwendung konzentrieren, anstatt alle sechs Dienste gleichzeitig auszurollen. Drittens bräuchte es eine viel umfassendere Testphase für das E-Rezept: Die angepeilten 30.000 Test-E-Rezepte sind angesichts von 700 Mio. Verordnungen p.a. ein Witz. Vor einem flächendeckenden Rollout sollten 10 Mio. E-Rezepte den Prozess durchlaufen und 80% der Ärzte damit schon Erfahrungen gemacht haben.

Ein solch grundlegender „TI-Reset“ käme einem politischen Offenbarungseid gleich. Das kann man nicht ernsthaft erwarten – oder …?

Brüggemann: Aus rein technischer Sicht wäre Einreißen und Neubauen wahrscheinlich die bessere Option. In der Praxis wird sich diese Frage aber in der Tat nicht stellen, weil sie ein politisches „No Go“ darstellt. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn man endlich die surreal enge Taktung aus dem Ganzen rausnehmen würde. Dampf rauszunehmen, und einen TI-Service nach dem anderen zum Fliegen zu bringen – so lautet das Gebot der Stunde. Wie jeder weiß, wächst auch Gras nicht schneller, wenn man daran zieht. Lassen Sie mich meine Warnung nochmal wiederholen: Es besteht nach wie vor das Risiko, dass die Einführung von E-Rezept, ePA & Co. komplett scheitert.

Der vormalige Bundesgesundheitsminister, Jens Spahn, hatte eine klare Digital-Agenda, wogegen sein Nachfolger, Karl Lauterbach, sich bis vor Kurzem zu 110% dem Pandemiemanagement verschrieben hat. Fehlt es am ernsthaften Durchsetzungswillen seitens der Politik, die Digitalisierung auch abseits von Sonntagsreden mit Nachdruck voranzutreiben?

Brüggemann: Die Politiker schwingen zwar motivierte Reden, bringen aber ihre Steuerungsinstrumente gar nicht erst zum Einsatz – insofern kann ich keine wirkliche Ernsthaftigkeit erkennen. Wir bräuchten endlich realistische Zeitpläne sowie positive Anreize für Ärzte und Apotheker. Wenn ich Leiter einer Urwaldexpedition bin, kann ich auch nicht einfach losspurten, ohne auf die anderen Teilnehmer zu achten.

Das Interview führte Dr. Hubert Ortner.

Dr. Hubert Ortner, Biochemiker, Chefredakteur AWA, E-Mail: hortner@dav-medien.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2022; 47(12):6-6