Dr. Hubert Ortner
Nullretaxationen wegen kleinster Formfehler sind für betroffene Apotheker ein echtes Ärgernis und erinnern mehr an "Freibeuterei" als an einen fairen Umgang unter Partnern auf Augenhöhe. (© AdobeStock/donfiore)
Abzocke, Straßenräuberei, Enteignung – die Liste der Begriffe für die mehr als fragwürdige Nullretax-Praxis der Krankenkassen ist lang und wenig schmeichelhaft. Zu den Fakten abseits solcher Schimpftiraden:
- Die von den Kostenträgern einbehaltenen Beträge sind völlig unverhältnismäßig und stehen in keinerlei vernünftigen Relation zum Schaden. Der kann oft nicht einmal klar beziffert werden.
- Es herrscht ein hohes Maß an Intransparenz – die Rabattverträge sind insofern eine veritable Blackbox.
- Abkehr vom Schuldprinzip – oft müssen Apotheken den Kopf für Verordnungsfehler anderer hinhalten.
- Abschreckung als Geschäftsmodell, gemäß Mao: „Bestrafe einen, erziehe tausende!“
- Fehlender Risikoausgleich bei enorm hohem Zusatzaufwand.
Man kann sich nur verwundert die Augen reiben, wenn etwa der Vorstandsvorsitzende des BKK Dachverbands unlängst davor warnte, dass bei einem Verbot von Nullretaxation mit einem „erheblichen finanziellen Schaden für die GKV zu rechnen wäre“. Lieber Herr Knieps: Selbstverständlich ist es mit finanziellen Einbußen verbunden, wenn man seine Partner (!?) nicht mehr beliebig „plündern“ kann. Wundert Sie das ernsthaft …?
Was sich zunächst wie eine Glosse liest, ist für viele Apotheken leider bitterer Ernst in ihrem ohnehin von bürokratischem Ballast überfrachtetem Alltag. Dabei sind die Fälle von Nullretax nicht nur ein Ärgernis, verbunden mit zum Teil beträchtlichen finanziellen Einbußen, sondern vor allem auch Ausdruck einer geradezu zynischen Missachtung ihres Engagements im Sinne der Patienten. Da wird kein Aufwand gescheut, um Kinder-Fiebersäfte in der Offizin selbst herzustellen, weil die Fertigarzneien (schon seit Monaten) nicht lieferbar sind – und dann hat z. B. die IKK classic nichts Besseres zu tun, als die Rezepte aufgrund fehlender Dosierangaben auf Null zu retaxieren. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, beantwortet die Kasse eine Anfrage dazu mit dem verlogenen Statement, dass man bei Retaxationen „stets mit Augenmaß“ agieren würde …
Abb. 1: Nullretaxation bereits wegen kleinster Formfehler: Geht so „Partnerschaft“ auf Augenhöhe?
Quelle: AdobeStock/eyewave
Kostenkontrolle ja, Plünderung nein
Ja, es braucht eine strikte Kostenkontrolle in einem System, in welchem dieses Jahr allein für gesetzlich Krankenversicherte rund 300 Mrd. € ausgegeben werden. Solche Summen wecken natürlich Begehrlichkeiten. Vom Nutznießer zum Abzocker ist es bekanntlich nur ein kleiner Schritt. Und ja, es ist selbstverständlich die originäre Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen, darüber zu wachen, dass diese vielen Milliarden am Ende tatsächlich auch ihren Versicherten zugutekommen. Ein Drittes Ja auch dazu, dass Rabattverträge freilich ihre Berechtigung haben (selbst wenn andere Ansätze denkbar sind), und durchaus die Gefahr besteht, dass Pharmafirmen nicht mehr bereit sind, sich üppige Rabatte abringen zu lassen, wenn die im Gegenzug vereinbarte Exklusivität löchrig wird.
Karl Lauterbach sieht die Kassen bei all seinen Reformprojekten als wichtigste Verbündete im gemeinsamen Kampf gegen die „bösen Leistungserbringer“. Und Verbündete pfeift man nur ungern zurück – selbst wenn sie ihre Finanzen mit mehr als fragwürdigen Methoden aufpolieren. Solange das „nur“ zu Lasten der “raffgierigen Apotheker“ geht, ist ohnehin alles in Ordnung – oder …?
Dieser Auftrag der Kassen ist aber kein Freibrief zur „Apothekenplünderung“. So kann man sich nur verwundert die Augen reiben, wenn etwa der Vorstandsvorsitzende des BKK Dachverbands, Franz Knieps, unlängst davor warnte, dass bei einem Verbot von Nullretaxationen mit einem „erheblichen finanziellen Schaden für die GKV zu rechnen wäre“. Konkret seien „mehr als 4 Mrd. € an Rabatteinnahmen gefährdet“. Wie bitte? Die Apotheken sollen aus eigener Tasche die Arzneimittel ihrer Patienten bezahlen, wenn der Arzt z. B. vergessen hat, die Dosierangabe auf dem Rezept auszufüllen? Lieber Herr Knieps: Selbstverständlich ist es mit finanziellen Einbußen verbunden, wenn man seine Partner nicht mehr beliebig „plündern“ kann! Wundert Sie das ernsthaft …?“
Wobei zur Wahrheit auch gehört, dass unsere Standesvertreter Verträge unterschrieben haben, die den Kassen zu viel Macht geben.
Geht so Selbstverwaltung auf Augenhöhe ...?
Zwar wurden im kürzlich verabschiedeten Lieferengpassgesetz (ALBVVG) manche besonders krassen Nullretax-Stilblüten bereits zurückgestutzt. Doch mahnte Thomas Rochell, Präsident des Apothekerverbands Westfalen-Lippe, unlängst völlig zu Recht, dass das bei weitem nicht ausreiche: Man müsse die Krankenkassen wieder in ihre Leitplanken zurückdrängen und endlich zu einer sachorientierten Selbstverwaltung auf Augenhöhe zurückkehren. Dass letztere immer weniger funktioniert und beim Thema Retaxation ein Totalausfall ist, lässt sich schwer leugnen. Was ganz offensichtlich fehlt, ist der politische Wille, die Kassen in ihre Schranken zu weisen. Dazu würde es reichen, diesen als kleinen Reminder eine Kopie des oben zitierten Gesetzestextes aus dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (s. unten "Stehen Krankenkassen über dem Gesetz") zukommen zu lassen ...
Allerdings ist das von einem Bundesgesundheitsminister, der selbst als Spiritus Rector von Gesundheits-Ökonomisierung und Spardiktat gilt, nicht wirklich zu erwarten. Für Herrn Lauterbach sind die Kassen die wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die „bösen Leistungserbringer“. Dass die in ihrer Sparwut gerne mal über die Stränge schlagen – geschenkt. Doch könnte ihm diese Einseitigkeit noch böse vor die Füße fallen, sollte sich die Selbstverwaltung immer mehr dahin entwickeln, wo viele Bereiche im Gesundheitswesen längst angekommen sind – zu einem Pflegefall. Genau danach sieht es momentan (leider) aus.
Stehen die Krankenkassen über dem Gesetz …?
Bereits seit 2015 ist gesetzlich klar geregelt, dass „Abrechnungsbeanstandungen durch Krankenkassen insbesondere bei Formfehlern vollständig oder teilweise unterbleiben sollen.“ So hat es der Gesetzgeber seinerzeit im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz formuliert. Dumm nur, dass sich die Kassen offensichtlich einen feuchten Kehricht darum scheren. Im Gegenteil feiert das „Geschäftsmodell Retaxation“ fröhliche Urständ – oft unter Einbindung externer Dienstleister.
Auf Apothekenrecht spezialisierte Fachanwälte sehen in der gängigen Nullretax-Praxis überdies einen klaren Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das hat Dr. Markus Rohner von der RST GmbH in Essen in der Titelstory für die AWA-Ausgabe 4/2023 (ab S. 6 f.) herausgearbeitet. Er beruft sich dabei auf die geänderten Formvorschriften in § 129 SGB V. Zwar hatte das Bundessozialgericht in einem Urteil vom 25.11.2015 (AZ: B KR16/15) die Retaxation auf Null für zulässig erklärt, wenn gegen einen Exklusivliefertrag verstoßen wird. Dagegen hat das Landessozialgericht Hamburg erst vor knapp anderthalb Jahren (am 17.02.2022, AZ: L 1 KR 145/19) eine Nullretaxation wegen eines Formfehlers abgelehnt, um Apotheken bei unbedeutenden Formfehlern vor unsachgemäßer Retaxation auf Null und damit vor wirtschaftlicher Überforderung zu schützen.
Dr. Hubert Ortner, Biochemiker, Chefredakteur AWA – APOTHEKE & WIRTSCHAFT, 70191 Stuttgart, E-Mail: hortner@dav-medien.de
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2023; 48(14):6-6