Sertan Deniz Öksüz, Dipl.-Bw. Doris Zur Mühlen
Bei der hierzulande sehr schleppenden Digitalisierung lohnt sich ein Blick über den Tellerrand auf andere EU-Länder: Die sind Deutschland oft meilenweit voraus. (© AdobeStock/Andy Ilmberger)
Seit der Corona-Pandemie hat sich im deutschen Apothekenmarkt viel verändert: Seit gut einem Jahr können Apotheken honorierte pharmazeutische Dienstleistungen anbieten, zudem nimmt die Digitalisierung langsam ein wenig Fahrt auf. Noch wichtiger jedoch ist die Erkenntnis, dass die Apotheker hierzulande es geschafft haben, auf Missstände aufmerksam zu machen und sogar zu streiken.
Entscheidend ist aber vor allem eine Frage: Wie können Apotheken die Rahmenbedingungen bestmöglich nutzen, um ihr Serviceangebot weiter auszubauen und – insbesondere durch die Nutzung digitaler Technologien – in einem umkämpften Markt wettbewerbsfähig zu bleiben …? Ein Blick über den nationalen Tellerrand hinaus auf die internationale Ebene kann hier wertvolle Aufschlüsse geben: Was machen andere EU-Staaten hier anders, was machen sie besser und was lässt sich als „Best Practice“ womöglich auf den deutschen Markt übertragen?
Die deutschen Apotheken befinden sich oft zwischen den Fronten fehlender gesetzlichen Rahmenbedingungen und den Erwartungen der Kunden. Aber ein gänzlicher „Freispruch“ kann den Apotheken nicht gewährt werden – es liegt auch in ihrer Verantwortung, neue Chancen und Entwicklungen aktiv anzunehmen.
Telemedizin: Von der Schweiz lernen
Die Telemedizin ist ein bereits seit vielen Jahren im Diskurs stehendes und jüngst durch den Referentenentwurf „Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens“ (Digitalgesetz – DigiG) von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wieder aufgegriffenes Thema. Durch assistierte Telemedizin sollen Apotheken befugt werden, den Versicherten vor Ort telemedizinische Leistungen anzubieten, sie dabei anzuleiten und auch einfache medizinische Routineaufgaben im Rahmen einer ärztlichen Videosprechstunde zu erbringen. Bei Bedarf können im Anschluss Rezepte vom Arzt verordnet und direkt in der Apotheke eingelöst werden.
Wie das Konzept in der Praxis aussehen kann, zeigt uns die Schweiz. Der Anbieter Medgate stellt mit seinen Mini-Clinic’s unter Beweis, dass Telemedizin aus Apotheken durchaus unkompliziert sein kann und – noch viel wichtiger – auch funktioniert. Kleiner Wermutstropfen: Die ABDA sieht hier einen Verstoß gegen geltendes Recht, welches eine bauliche Trennung der Apothekenbetriebsräume von anderweitig gewerblich genutzten Räumen vorschreibt. Auch das Anbieten einfacher medizinischer Routineaufgaben in Apotheken beurteilt die Standesvertretung in rechtlicher Hinsicht kritisch.
E-Rezept: Schweden und Frankreich als Benchmark
Nachdem im letzten Jahr die Einführung des E-Rezepts via elektronischer Gesundheitskarte (eGK) aufgrund eines Vetos des Datenschutzbeauftragten noch gescheitert war, startete zum 1. Juli 2023 dieser dritte, vollständig digitale Weg zum Einlösen des E-Rezepts in der Apotheke. Aber es gibt deutlichen Gegenwind vonseiten der niederländischen Arnzeimittelversender: DocMorris und Redcare Pharmacy (Shop Apotheke) sehen sich beim E-Rezept via eGK diskriminiert. Auf die Beschwerde bei der EU-Kommission könnte im nächsten Schritt eine Klage folgen, so Olaf Heinrich, CEO von Redcare Pharmacy.
International betrachtet liegt Deutschland sowohl mit der gesetzlichen Legitimation als auch bei der praktischen Anwendung von E-Rezepten hinten. Neben der rasanten Entwicklung Polens innerhalb der letzten Jahre ist die Verschreibung elektronischer Rezepte beispielsweise in Schweden längst Alltag. Hier werden rund 99 % aller Verordnungen über eine zentrale Datenbank elektronisch ausgestellt, welche allen schwedischen Apotheken eine Schnittstelle bietet. Ebenfalls sind Apotheken in Frankreich befähigt, über die Gesundheitskarte der Patienten alle offenen E-Rezepte einzusehen. Die positive Akzeptanz unserer europäischen Nachbarn könnte und sollte Deutschland inspirieren, bei aller Liebe zum Datenschutz und drohender (Cyber-)Risiken die Chancen des E-Rezepts nicht ganz aus den Augen zu verlieren (s. Kasten Deutschland hinkt hinterher).
Deutschland hinkt meilenweit hinterher
Die wenigen in diesem Artikel aufgezeigten Beispiele zeigen, dass uns Apotheken im europäischen Ausland in punkto Digitalisierung meilenweit voraus sind und bereits in der Praxis Leistungen anbieten, für die in Deutschland überhaupt erst die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden müssen. Die deutschen Apotheken befinden sich hier oft zwischen den Fronten fehlender gesetzlicher Rahmenbedingungen und den Erwartungen der Kunden. Aber ein gänzlicher „Freispruch“ kann den Apotheken nicht gewährt werden – es liegt auch in ihrer Verantwortung, neue Chancen und Entwicklungen aktiv anzunehmen. So gibt es einige Bereiche, bei denen die Rahmenbedingungen zwar stimmen, aber dennoch kaum Angebote entwickelt, oder diese nur halbherzig an die Kunden kommuniziert werden. In diesem Zusammenhang wäre es natürlich auch wünschenswert, wenn die ABDA Digitalisierungsvorhaben mit Zukunftspotenzial an vorderster Stelle unterstützt, z. B. bei der Telemedizin.
Selbstverständlich spielt auch die Apothekenvergütung, über die ja seit Monaten gerungen wird, hier mit hinein. Eine nachhaltige Erweiterung des Leistungsspektrums sowie deren aktive Kommunikation in Richtung Patienten kann freilich nur funktionieren, wenn die Apotheken dafür angemessen entlohnt werden. Denn der Ausbau infrastruktureller Rahmenbedingungen – vor allem Investitionen in neue digitale Technologien – können nur im Interesse der Apotheker sein, wenn sich die entstandenen Kosten auch in absehbarer Zeit amortisieren.
Medikationsmanagement: Frankreich ist Lichtjahre voraus
Dass mithilfe eines einheitlichen Medikationsmanagements und einer engen Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern das Mortalitätsrisiko gesenkt werden kann, hat das Modellprojekt ARMIN jüngst unter Beweis gestellt. Risiken wie falsche Medikamenteneinnahme, Wechselwirkungen von Arzneien, nicht ausreichende Dokumentation und unzulängliche Kommunikation sollten mit dem Projekt minimiert und die Patientensicherheit dadurch gefördert werden. Mit Erfolg! Doch was heißt das für die Praxis?
Mit dem Entwurf für das Digitalgesetz sind bereits erste Anpassungen vorgesehen, wobei insbesondere der elektronischen Patientenakte (ePA) eine Schlüsselrolle beim digital unterstützten, interprofessionellen Medikationsmanagement zukommt.
Im Bereich Medikationsmanagement hat Frankreich europaweit die Nase vorne. Unsere Nachbarn sind uns hier Lichtjahre voraus und investieren bereits in die Vollautomatisierung. Die Auslieferung neuer Automatisierungslösungen für Arzneimittelsicherheit in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen hat bereits begonnen. Mit ihren „Aide-Cut- und Aide-Pick-Systemen“ bietet die Deenova-Gruppe bereits Lösungen zum automatisierten Schneiden und Umpacken beziehungsweise Verteilen von Medikamenten aller Art. Dies soll nicht nur die Patientensicherheit erhöhen und Medikationsfehler reduzieren, sondern auch die betriebliche Effizienz steigern und eine vollständige Rückverfolgbarkeit der Arzneimittel gewährleisten. Kombiniert mit bereits bestehenden Datenbanken zur Einsicht von Medikationsplänen – dem sogenannten „Dossier Pharmaceutique“ – soll damit die Arzneimitteltherapiesicherheit spürbar verbessert werden.
Hausbesuche à la Großbritannien
Durch das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz hat sich das Angebot der Apotheken hierzulande um die neuen vergüteten pharmazeutischen Dienstleistungen erweitert. Gedeckelt wird dieses Angebot allerdings durch die Apothekenbetriebsordnung, wonach Leistungen nur in den von der Betriebserlaubnis erfassten Betriebsräumen der Apotheke erbracht werden dürfen. Dies gilt ebenfalls für Hausbesuche. Apothekenrechtlich sind Dienstleistungen außerhalb der Betriebsräume nur dann zulässig, wenn sich dies aus der Natur der Sache ergibt, beispielsweise bei bettlägerigen Patienten.
Es ginge auch anders. So gibt es beispielsweise in Großbritannien schon seit Jahren Hausbesuche von Apothekern nach ärztlicher Überweisung. Mit den sogenannten „Medicines Reviews“ analysieren Apotheker die gesamte Medikation eines Patienten, identifizieren arzneimittelbezogene Risiken und entwerfen Lösungsvorschläge, die mit den Ärzten und Patienten abgesprochen werden. Vor allem bei Patienten mit Multimorbiditäten und Polymedikationen konnten Verbesserungen der Verschreibungsqualität und eine leichte Reduktion der durchschnittlichen Anzahl an Medikamenten pro Patient erreicht werden.
Sertan Deniz Öksüz, Consultant, RST Steuerberatungsgesellschaft mbH, 45128 Essen, E-Mail: soeksuez@rst-beratung.de
Dipl.-Bw. Doris Zur Mühlen, Wirtschaftsprüferin, Steuerberaterin, geschäftsführende Gesellschafterin der RST Steuerberatungsgesellschaft mbH, 45128 Essen, E-Mail: dzurmuehlen@rst-beratung.de
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2023; 48(19):8-8