Rezepte aus den Arztpraxen

Ja, wo bleiben sie denn?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Manch Apotheke wundert sich, dass zwar die Miete zur Zahl der Praxisschilder in der unmittelbaren Umgebung passt, die Rezeptzahlen aber nicht, und das sogar schon immer – selbst ohne E-Rezept. Welche Fallen hier lauern, erfahren Sie im folgenden Beitrag.

Wo die Rezepte aus den Arztpraxen bleiben, das fragt sich so mancher Apotheker!
Bild: AdobeStock_andreaobzerova

 

Unlängst konnten Sie im AWA viel Wissenswertes zur Abschöpfung des GKV-Rezeptmarktes lesen (AWA 06/2024, Seite 10 f.). Damit haben Sie eine gute „Grundpeilung“, wie es um Ihren lokalen Rezeptmarkt bestellt ist. Doch was, wenn Sie unplausible Abschöpfungsgrade feststellen, z. B. weit über 100 % oder nur 50 %, obwohl die Praxis direkt über der Apotheke im Haus ist? Und was ist mit den Privatrezepten oder Verordnungen, die nicht in den Statistiken auftauchen? Hier ist dann Detail- und Recherchearbeit angesagt.

Datenquellen

Verordnungsdaten der einzelnen Arztgruppen finden sich in der öffentlich zugänglichen Online-Publikation „Der GKV-Arzneimittelmarkt: Klassifikation, Methodik und Ergebnisse“ im jeweiligen Erscheinungsjahr (aktuell mit Daten für 2022), bereitgestellt vom WIdO, dem Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen (AOK). Dort werden die „Nettokosten“ je Arzt ausgewiesen. Hierunter subsumiert werden, neben den weit dominierenden Fertigarzneimitteln, auch Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln und ambulante Abgaben aus Krankenhausapotheken. Der Sprechstundenbedarf (immerhin 2,7 Mrd. € brutto) sowie die Verband- und Hilfsmittel (2,1 Mrd. €) sind in den Arztverordnungsvolumina jedoch nicht enthalten.

Die Nettokosten aus Sicht der Krankenkassen sind die Kosten, welche der GKV und ihren Versicherten tatsächlich entstanden sind, ohne Ersparnisse aus kassenindividuellen Rabattverträgen. Damit lautet der Rechenweg aus Kassensicht: Brutto-Taxumsatz einschließlich Zuzahlungen aller Rezepte (60,7 Mrd. €, darin enthalten 2,8 Mrd. € Eigenanteile und Festbetrags-Aufzahlungen) abzüglich Apothekenrabatt (1,2 Mrd. €), abzüglich gesetzlicher Herstellerabschläge ohne Rabattverträge (2,0 Mrd. €) und bereinigt um Verband-/Hilfsmittel (2,0 Mrd. €) ergibt die Arzneimittel-Nettokosten (rund 52,8 Mrd. €). Für die Apotheken sieht der Rechengang so aus:

Arzneimittel-Nettokosten je Arzt

  • + gesetzliche Herstellerabschläge (denn wir rechnen von Listenpreisen aus, rund 3 % von der Brutto-Taxsumme),
  • + Hilfs-/Verbandmittel (3,5 %),
  • + Sprechstundenbedarf (4,5 %),
  • abzüglich Mehrwertsteuer.

 

Aus einem Arztverordnungsvolumen von 100.000 € nach Tabelle der o. a. WIdO-Publikation sollten im Schnitt vor Verordnungsbesonderheiten der Fachgruppen gut 93.000 € steuerlicher Nettoumsatz für die Apotheke resultieren. Es fehlen manche Rezepturen (vor allem bei Onkologen), und wir reden nur über den GKV-Markt. Die Privatverordnungen kommen obenauf, und diese können arztspezifisch weit über den statistisch zu erwartenden Privatpatientenanteil von gut 11 % der Versicherten hinausgehen. Besonders hoch fallen Privatverordnungen z. B. bei Hautärzten aus (20 % und mehr), bei den Frauenärzten ist die „Pille“ das bekannteste Add-on. Einige „korrigierte“ steuerliche Netto-Verordnungsumsätze je Arzt („alles“) und die Anzahl der Verordnungen, im Bundesdurchschnitt, Richtwerte:

  • Neurologen: 850.000 € / 4.500
  • Hautärzte: 550.000 € / 4.500
  • Urologen: 490.000 € / 3.000
  • Hausärztliche Internisten: 420.000 € / 11.000
  • Hausärzte: 320.000 € / 11.000
  • Psychiater: 220.000 € / 5.000
  • Kinderärzte: 210.000 € / 6.000

 

Zwischenfazit: Die publizierten Werte bilden mitnichten das apothekenrelevante Verordnungsvolumen vollständig ab, ganz unabhängig vom Thema Mehrwertsteuer. In erster Näherung stellen die publizierten GKV-Verordnungswerte je Arzt die Untergrenze des effektiven, steuerlichen Nettoumsatzes einschließlich Privatverordnungen dar. Bei einigen Fachgruppen (Haut, Frauenärzte, Onkologen) liegt das Volumen deutlich darüber.

Individuelle Praxiskorrekturen

Es kommt noch ein weit größerer Faktor zum Tragen – nämlich die Besonderheiten der einzelnen Praxen. Abbildung 1 zeigt exemplarisch die GKV-Honorarstreuungen der Hausärzte in 2022. Ähnlich wie bei Apotheken sehen wir eine große Streubreite. Es liegt auf der Hand, dass die Patientenzahlen und das Verordnungsvolumen ähnlich stark streuen. 20 % der Ärzte im Beispiel erreichen weniger als die Hälfte des Median-Honorarumsatzes, ebenfalls fast 20 % übertreffen den Medianumsatz aber um mehr als 50 %.

 

Abb. 1: Hausärzte – Honorarstreuung 2022

Da die Werte je Arzt ausgewiesen sind, erklären sich etliche der niedrigeren Umsätze durch Praxisgemeinschaften, in welchen der einzelne Arzt nicht selten weniger arbeitet. Deshalb darf man bei einer Gemeinschaftspraxis die erwarteten Verordnungen nicht einfach mit der Zahl der tätigen Ärzte multiplizieren, sondern muss oft starke Abschläge machen.

Unsicherheit Privatrezepte

Überlagert wird dies durch die sehr unterschiedlichen Privatanteile. Das hängt von der Region ab (der Privatpatientenanteil liegt beispielsweise in den neuen Bundesländern immer noch deutlich unter demjenigen der alten), aber auch von der Ausrichtung der einzelnen Praxis. Nicht zuletzt unterliegt die Zahl der Patienten je Praxis (quartalsbezogene „Scheinzahl“) regionalen Streuungen, wie Abbildung 2 anhand der Hausärzte und aufgeschlüsselt nach KV-Bezirken für die GKV zeigt. Für die Ärzte bedeutsam sind zudem die je nach Bezirk unterschiedlichen „Fallwerte“ (Umsatz je Patient und Quartal).

 

Abb. 2: Hausärzte – „Scheinzahl“ und „Fallwert“ je nach KV-Bezirk 2022

Für die Ärzte ergibt die Multiplikation von „Fallwert“ und „Scheinzahl“ ihren GKV-Honorarumsatz je Quartal. In 2022 waren das bei den Hausärzten um 60.000 € im Schnitt.

Fazit

Praxis ist nicht gleich Praxis, und Arzt nicht gleich Arzt! Die individuellen Streuungen auch innerhalb einer Fachgruppe im gleichen Bundesland sind enorm.

Das bedeutet: Publizierte Durchschnittswerte sind schön, eine individuelle Erhebung ist besser! Zumindest zu Ihren Hauptverordnern sollten Sie Kontakt aufnehmen und die Verordnungsumfänge und Besonderheiten ansprechen. Die meisten Ärzte sind da recht offen.

Ein weiterer Fingerzeig ist die „Scheinzahl“, die jeder Arzt kennt (GKV und privat). Wenn Sie diese in Relation zu den durchschnittlichen Scheinzahlen der Fachgruppe im KV-Bezirk setzen (in den „Honorarberichten“ der KBV zu finden), wissen Sie, ob die Praxis über- oder unterdurchschnittliche Umsätze erwarten lässt.

Am Ende zählen jedoch nicht Umsätze, sondern Roherträge. Das ist noch einmal ein eigenes Thema, welches wir in einem weiteren Beitrag aufgreifen werden.

 

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

 

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2024; 49(08):4-4