Grassierendes „Sicherheitsdenken off limits“

Zwischen Groteske und wirtschaftlichen Chancen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Vor einiger Zeit (am 21.03.2024), aber unvergessen, titelte die bekannte ZEIT ONLINE: „Forscher sehen Risiken, wenn Kinder im Lastenrad mitfahren.“ Laut einer Studie sei es oft riskant, Kinder mit dem Lastenrad zu transportieren. Sie seien häufig nicht angeschnallt, und das Rad neige zudem zum Kippen. Aha. Es gebe (noch!?) kein Gesetz zum Kindertransport. Um Lastenfahrräder sicherer zu machen, seien eine Neigetechnik sowie Sitze mit Kopfschutz, wirksame Gurte und eine Sicherheitszelle als Aufprallschutz sinnvoll. Deswegen müsse die bestehende DIN-Norm verschärft werden. Das Beste in solchen Artikeln kommt gern gegen Schluss: 2022 ereigneten sich in Deutschland 222 solcher Unfälle (+ 45 % gegenüber 2019). Zwölf (!) Kinder wurden dabei schwer verletzt. Unfallgegner bei Radunfällen und mitfahrenden Kindern sei zudem meist ein Auto. Übrigens: Eine Studie (bereits aus dem Jahr 2007) ermittelte rund 70 Todesopfer auf Rettungsfahrten, bei 20 Millionen Fahrten im Jahr. Ist die Fahrt ins Krankenhaus des mit dem Lastenrad verunglückten Kindes dann nochmals womöglich gefährlicher als die Fahrradtour selbst?

Schon vor Jahren hatte es eine Lobby geschafft, Sicherheitsgurte in Fernbussen zu verankern. Die Zahl der sehr schwer bzw. tödlich Verletzten im Fernbusverkehr rangiert, unabhängig von einigen medienwirksamen Unfällen, im zweistelligen Bereich pro Jahr. Schon einen Bart hat der „running gag“ jeder Kosten-Nutzen-Abschätzung unter Risikoforschern, nämlich die Schwimmweste im Flugzeug. Kaum je hat diese wirklich ein Leben gerettet, fliegt aber auf Milliarden Flugkilometern mit (ihr Gewicht ist der eigentliche Kostenfaktor). Der „Krieg gegen den Terror“ steht auf der Rangliste des je Leben getätigten Aufwandes ebenfalls ganz weit oben.

Andererseits erstaunt, aufgrund welch lächerlicher Ursachen immer noch sehr viele Menschen sterben oder gar sinnloserweise auf Schlachtfeldern geopfert werden. Es ist in der einschlägigen Forschung lange bekannt, dass Menschen Risiken schlecht einschätzen können. Kommt der Panikmechanismus in Gang (bzw. wird politisch gezielt getriggert), kennen Aufwand und Unterordnungsbereitschaft kaum Grenzen. Man lässt beinahe jeden Unsinn mit sich machen.

Aufwand bedeutet Einnahmen für andere. Damit sind wir bei den Chancen. Mehrere hunderttausend Patienten werden jährlich aufgrund von Arzneimittelkomplikationen in Kliniken eingeliefert. Die Zahl der Todesopfer dürfte im hoch vier- bis fünfstelligen Bereich liegen, darunter sicherlich Hochbetagte und Multimorbide, bei denen dies der finale Auslöser war – aber nicht nur. Mit dem Medikationsmanagement und der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) wird dieses Feld erschlossen, jedoch mit erheblichen Ladehemmungen. Es mangelt an Zeit, und wenn die Kostenträger in den Beutel greifen sollen, wird es schwierig. Delegiert man Lasten an die Kunden selbst, wird es einfacher. Was wird nicht alles auf die Kunden unter den Begriffen Eigenverantwortung, Selbstbeteiligung und Grenzen der Sozialstaatlichkeit abgeschoben?

Wir wissen lange, dass das OTC-Geschäft in der Arzneimitteltherapiesicherheit der berühmte weiße Fleck ist. Die Zahl der Schäden – von teuren chronischen Schädigungen durch OTC-Schmerzmittelabusus bis hin zu manch manifesten Todesfällen z. B. durch Blutungen – dürfte gleichfalls in der Summe deutlich vierstellig jährlich sein, sich jedenfalls in ganz anderen Regionen bewegen wie den anfangs dieser Seite angeführten. Was tun?

Für risikobehaftete rezeptfreie Wirkstoffe könnte aus „Over The Counter“ künftig RxAp, die Verschreibung per Apotheker (neben dem Arzt), werden. Das wäre eine neue Abgabekategorie mit der Erfordernis einer Beratung vor Ort. Zudem ermöglicht ein obligatorisches Einschreibesystem erst den wirklichen Gesamtüberblick über die Medikation. RxAp würde einen Beratungs-Festaufschlag analog Rx rechtfertigen. Der Preis wäre wieder dem „freien Wettbewerb“ entzogen. Die Versandhandelskonkurrenz würde wohl versuchen, die telepharmazeutische Karte samt Preisboni zu ziehen – jedoch dann wieder in einem rechtlichen Graubereich. Im Grunde dürfte es ja keinen Preisvorteil mehr geben. Und wer würde sich an den Versand per Einschreibung binden wollen? Wer Sicherheit ernstnimmt und Crashtests für Kinderanhänger fordert, muss erst recht über höhere Arzneimittelsicherheit nachdenken – erzielbar u. a. durch Einschreibemodelle plus persönliche Betreuung.

 

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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